Islamischer Staat:Abenteuerliche Organhandel-Episoden aus dem Dschihad

Der IS soll eine neue Einnahmequelle haben: Organe von Zivilisten und gefallenen Soldaten, die ins Ausland verkauft werden. Das behauptet die irakische Regierung. Der Vorwurf klingt schrecklich - ist aber vielleicht gar nicht wahr.

Von Robert Gast

Die Anschuldigung überrascht nicht, aber sie verstört: Der Islamische Staat (IS) soll seinen Feldzug mit dem Handel von Organen finanzieren. Die irakische Regierung habe Massengräber mit Leichen entdeckt, denen Organe entnommen wurden, sagte der irakische UN-Botschafter Mohammed Ali ِAl-Hakim vergangene Woche vor dem UN-Sicherheitsrat. "Einige der Körper, die wir gefunden haben, waren verstümmelt, einige Körperteile fehlten", sagte Al-Hakim. Und auch einen möglichen Absatzmarkt nannte er: Europa.

Das klingt schrecklich, nach einer neuen Sprosse auf der Superschurkenleiter, direkt unter "Kannibalismus". Aber wie plausibel ist der Vorwurf? Schließlich stammt er von der irakischen Regierung, dem Kriegsgegner des IS.

Außer Frage steht, dass dem Islamischen Staat viel zuzutrauen ist. Immer wieder haben Islamisten, die Teile Syriens und des Iraks kontrollieren, Menschen auf grausame Art und Weise ermordet. Außerdem sind den Gotteskriegern zuletzt mehrere Einnahmequellen weggebrochen: Mit dem Schmuggeln erbeuteter Kunst- und Kulturgüter soll der IS kaum noch Geld verdienen, berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Gleichzeitig kann der IS derzeit offenbar weniger Öl verkaufen als in der Vergangenheit.

Klar ist auch, dass Organe viel wert sind. Der Bedarf an neuen Herzen, Lebern, Nieren, Lungenflügeln und Bauchspeicheldrüsen ist riesig. Obwohl im Jahr 2010 weltweit mehr als 100.000 Organe transplantiert wurden, glauben Experten, dass dies nur einen kleinen Teil der globalen Nachfrage deckte.

Der Transplantations-Tourismus boomt

Besonders begehrt sind Nieren. In Europa warteten 2010 etwa 50.000 Menschen auf eine neue Niere, nur ein Drittel von ihnen erhielt ein Spenderorgan. Mitunter müssen Dialyse-Patienten viele Jahre warten, bis ein geeigneter Spender bereitsteht. Um diese Tortur abzukürzen, sollen zig Menschen aus Industrienationen Jahr für Jahr in Entwicklungsländer reisen, um dort ein Organ zu kaufen. Im Jahr 2005 sollen zehn Prozent aller Nierentransplantationen auf diese Weise zustande gekommen sein, schätzte die Fachzeitschrift Lancet.

Als Zentren des "Transplantations-Tourismus" galten lange China, Indien, Pakistan, die Philippinen und Ägypten. Seit der Istanbuler Erklärung von 2008, einer von medizinischen Gesellschaften in Dutzenden Staaten unterzeichneten Absichtserklärung, gehen diese und andere Staaten aber stärker gegen illegalen Organhandel vor, zumindest offiziell.

In Deutschland teilt das Bundeskriminalamt auf Anfrage mit, hierzulande habe man zwischen 2009 und 2013 bloß in 16 Fällen wegen illegalem Organhandel ermittelt. Auch wenn man seine tatsächliche Größe nur schätzen kann, gibt es ihn aber definitiv immer noch, den Organ-Schwarzmarkt. Erst vor wenigen Wochen sorgte der Fall eines nierenkranken deutschen Journalisten für Aufsehen. Er ist für eine neue Niere nach Afrika geflogen und berichtet freimütig darüber.

Bis zu 200.000 Dollar kostet eine neue Niere, schätzte die WHO im Jahr 2004. Neuere Berichte nennen einen niedrigeren Preis. Eine Bande, die im Jahr 2010 bettelarme Syrer zur Nierenentnahme nach Kairo schleuste, soll 15.000 Dollar pro Niere kassiert haben. Nur ein kleiner Teil des Geldes kommt bei solchen Deals den Spendern zugute, ein Großteil fließt in die Tasche der Schleuserbande. Manche sehen in diesem und anderen Fällen eine weltweit agierende Organhändlermafia am Werk: Diese soll Kliniken bestechen, Patienten und Spender um die halbe Welt schleusen und Ärzte für die komplizierte Operation engagieren.

Längst nicht alle Berichte über Organhandel lassen sich erhärten

Wissenschaftler des Erasmus Medical Center in Rotterdam haben mit Förderung der EU einige öffentlich gewordene Fälle nachrecherchiert: So vermittelte eine Klinik in Südafrika in den Jahren 2001 bis 2003 Spender aus Brasilien und Rumänien an reiche Israelis. Und im Jahr 2011 bekannte sich ein 60-jähriger Mann aus New York dazu, im großen Stil Organe an Amerikaner verschachert zu haben. Viel Aufsehen erregte auch der Fall der "Medicus"-Privatklinik in Kosovo. Dort fanden im Jahr 2008 mindestens 24 illegale Nierentransplantationen statt, 2013 wurden drei der Verantwortlichen zu Gefängnisstrafen verurteilt.

In diesem und anderen Fällen blieben aber Zweifel, was das wahre Ausmaß des Organhandels anbelangt. Immer wieder haben sich Gerüchte und Mythen nicht erhärten lassen. Etwa das aus den frühen 1990er Jahren, als eine Reihe von Fernsehsendungen und Büchern über verschwundene Kinder berichteten, die in den USA von "Organdieben" entführt worden sein sollen. Stichhaltige Belege dafür gab es nicht. Zu diesem Urteil kam damals zumindest die US-Regierung in einem Bericht. Bis heute verbreitet sind Berichte von Menschen, die in einer mit Eiswürfeln gefüllten Badewanne aufwachen und denen angeblich Organe entnommen wurden.

"Zum Thema Organhandel zirkulieren seit langem Geschichten, für die sich keine Beweise finden", sagt Frederike Ambagtsheer vom Erasmus Medical Center in Rotterdam, die seit sechs Jahren Fälle von illegalem Organhandel erforscht. Das heiße aber nicht, sagt Ambagtsheer, dass es keinen illegalen Organhandel gebe - er kommt aber vermutlich in einer weniger spektakulären Form daher als in den Schauermärchen. So werden die allermeisten Transplantationen mit dem Einverständnis des Spenders ausgeführt, der oft aus Geldnot ein Organ hergibt.

Niemand transplantiert Organe auf einem Schlachtfeld

Mythos oder reales Verbrechen? Diese Frage stellt sich auch bei der jüngsten Meldung über den IS, der Organe exportieren soll. Der britische UN-Botschafter Mark Lyall Grant wies laut CNN darauf hin, dass es keine Beweise für die Behauptungen seines irakischen Kollegen gebe. Auch Frederike Ambagtsheer ist skeptisch: "Es ist ziemlich schwierig, so einen Handel aufzuziehen", sagt sie.

Dem pflichtet ein deutscher Transplantationsmediziner im Gespräch mit Süddeutsche.de bei: "Aus meiner Sicht gehört diese Meldung in den Bereich der urbanen Legenden", sagt der Experte, der nicht namentlich genannt werden will. Auf dem Schlachtfeld eben mal Organe entnehmen? Das gehe nicht. Eine Organtransplantation sei ein sehr aufwändiger Eingriff, für den man ein Krankenhaus mit "medizinischer Maximalversorgung" benötige. Also eine Intensivstation, moderne Operationssäle, diagnostische Labore und geschultes Personal. In Deutschland fallen Universitätskliniken in diese Kategorie.

Aber gibt es so was auch im syrisch-irakischen Kriegsgebiet, im dem immer wieder der Strom ausfällt, in dem seit Monaten Bomben vom Himmel fallen? Oder gibt sich der IS möglicherweise mit deutlich geringeren Standards zufrieden? In Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, die vom IS kontrolliert wird, soll es laut Washington Post sieben Krankenhäuser geben. Demnach arbeiten dort weiterhin irakische Ärzte. Teilweise werden sie gezwungen, teilweise sollen sie noch von der irakischen Regierung bezahlt werden. Nun soll ein Dutzend Ärzte hingerichtet worden sein, berichtete der irakische Botschafter, weil sich die Mediziner geweigert hätten, Transplantationen durchzuführen.

Nur wenige Ärzte können Organe transplantieren

Ob die Ärzte, die in Mossul verblieben sind, wirklich Organe transplantieren können, ist allerdings unklar. Der Eingriff gilt als kompliziert. In Deutschland könnten weniger als 100 Mediziner selbständig eine Transplantation vornehmen, sagt der deutsche Experte. Im Irak seien es beim Ausbruch des Bürgerkrieges "höchstens" einige Dutzend gewesen, vermutlich deutlich weniger.Ob ausgerechnet diese Spezialisten vom IS gefangen genommen wurden?

Wenn eine Transplantation nicht sachgerecht durchgeführt wird, drohen schwere Komplikationen. Vor dem Transfer müssen Gewebeproben von Spender und Empfänger im Labor abgeglichen werden. Entnommene Organe muss man sofort kühlen, außerdem müssen sie außerhalb des Körpers von einer speziellen Flüssigkeit, einer sogenannten Perfusionslösung, durchspült werden.

Die Transplantation gelingt außerdem nur, wenn der Spender bei der Organentnahme noch lebt, sagt der deutsche Experte. Sobald Blut nicht mehr durch den Körper zirkuliert, ließen sich Organe nicht mehr transplantieren. Meldungen, dass Organe von gefallenen Soldaten entnommen werden, sind demnach mit Vorsicht zu genießen.

Der irakische UN-Botschafter präsentierte eine eher abenteuerliche Vermutung, wie die Logistik der Terroristen aussehen könnte: Der IS soll Körperteile ins Ausland ausfliegen. Tatsächlich können Nieren, entsprechende Kühlung vorausgesetzt, bis zu zwanzig Stunden nach der Entnahme wieder eingepflanzt werden. Bliebe ein Problem: Zwar soll der IS dabei sein, eine kleine Luftwaffe aufzubauen, wie der Guardian berichtet. Dass die Terroristen nach Belieben Flugzeuge in andere Länder fliegen lassen, ist aber doch sehr unwahrscheinlich. Und die Organe per Lastwagen über die Grenze zu schmuggeln, etwa in die Türkei oder nach Saudi-Arabien, dürfte aufwändig sein.

Für eine Niere nach Mossul?

Ohnehin ist der Transport von Nieren bei Organhändlern offenbar alles andere als beliebt. Eine Studie der WHO fand im Jahr 2007 keine Hinweise auf Fälle, bei denen bereits entnommene Organe geschmuggelt wurden. Auch Organhandel-Expertin Frederike Ambagtsheer sagt: "Mir ist kein Fall bekannt, in dem Organe illegal in ein anderes Land transportiert wurden." In den zweifelsfrei dokumentierten Fällen von Organhandel befanden sich Spender und Empfänger bei der Transplantation in derselben Klinik - alles andere scheint heikel zu sein.

Der UN-Sicherheitsrat will die Vorwürfe des irakischen Botschafters nun dennoch untersuchen. Wenn man an den IS als Organhändler glauben will, muss man sich aber vermutlich fragen, ob es Amerikaner, Europäer, Israelis oder Saudis gibt, die für eine neue Niere nach Mossul reisen - oder ob der IS Organe vor allem an reiche sunnitische Stammesfürsten verkauft. Denkbar ist beides, natürlich. Den Forschern in Rotterdam ist in jüngster Zeit ein Twitter-Account aus den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgefallen, der Nierentransplantationen anbietet. Wo die Organe herkommen, ist unbekannt.

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