Allein hätte Bilal C. den "Islamischen Staat" nicht verlassen dürfen, doch "Omar" hatte alles geregelt. Zum Abschied bekam der junge Algerier C. von "Omar" 5000 Euro ausgehändigt - und einen Auftrag: In Istanbul werde er auf einen Mann namens "Al Andalusi" treffen. Bilal C. solle ihn sicher nach Europa lotsen.
"Omar" setzte viel Vertrauen in Bilal C., einen jungen algerischen Schlepper, fast noch ein Kind, der, als sie sich ein halbes Jahr zuvor in der Türkei kennengelernt hatten, stets kiffte, trank und rauchte. "Omar" hatte ihn erst zum Beten gebracht, dann zum Islamischen Staat. Und nun sollte der Junge als Scout dafür sorgen, dass "Omar" und sein Freund "Al Andalusi" sich unauffällig unter die Masse der Flüchtlinge mischen konnten, die zu der Zeit auf der Balkanroute unterwegs waren.
Seit April 2016 in Haft
"Omar" hieß eigentlich Abdelhamid Abaaoud, ein Belgier marokkanischer Herkunft und einstiger Kleinkrimineller. Er wurde zu diesem Zeitpunkt, im Juni 2015, bereits international als gefährlicher Terrorist gesucht. Trotzdem gelang es ihm, auch mit der Hilfe von Bilal C., unbemerkt erst nach Belgien und dann nach Frankreich einzureisen, wo er im November 2015 die Anschläge von Paris orchestrierte.
Ebenso wie der von Bilal C. über die Balkanroute geschleuste "Al Andalusi", eigentlich Ayoub El Khazzani. Kurz nachdem Bilal C. und er Anfang August 2015 Belgien erreicht hatten, stieg El Khazzani in Brüssel in einen Thalys-Schnellzug und schoss mit einer Kalaschnikow, bis er von mehreren Passagieren überwältigt wurde.
Ob Bilal C. wegen seiner Hilfestellung zu diesen Terrortaten in Deutschland oder in Frankreich vor Gericht gestellt wird, soll in den nächsten Wochen entschieden werden. C. sitzt seit April 2016 in Aachen in Haft, zunächst war er wegen Ladendiebstahl aufgefallen, es ging um Schuhe und Kosmetika - doch dann machten ausländische Behörden die deutschen auf seine Facebook-Kommunikation mit Abaaoud aufmerksam.
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"Radar" heißt die neue Wundersoftware der Staatsschützer. Sie soll beurteilen, wie gefährlich Personen wirklich sind - offenbar mit einigem Erfolg.
Seit Juli 2016 wird gegen ihn als Terrorhelfer ermittelt - doch nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR ist bei der Generalstaatsanwaltschaft in Köln ein Auslieferungsersuchen aus Frankreich eingegangen, das am Freitagmorgen vor dem Oberlandesgericht Köln verkündet wurde. Sehr wahrscheinlich ist, dass keine deutsche Instanz sich gegen die Überstellung wenden wird: Die Anschläge von Paris waren ein Massaker mit 130 Toten und mehr als 350 Verletzten - schon deshalb würde man der französischen Justiz den Vortritt überlassen.
Es waren jedoch Beamte aus dem Bundeskriminalamt, vor denen Bilal C. über viele Stunden ein Geständnis abgelegt hat. Seine Aussagen belegen, wie gezielt der IS die Flüchtlingsroute mindestens in der Vergangenheit nutzte, um seine Kämpfer nach Europa zu schleusen.
Bilal C., 20, der aus einer Kleinstadt in Zentralalgerien stammt und schon als Kind davon träumte in Europa sein Glück zu suchen, lernte Abaaoud Ende 2014 in der türkischen Grenzstadt Edirne kennen, wo C. sein Geld als Schlepper verdiente. Er half Abaaoud und seinen Freunden erstmals Anfang 2015 nach Griechenland zu gelangen, doch Abaaoud hatte mehr mit ihm vor: Er schickte ihn nach Syrien in das Gebiet des Islamischen Staats, wo C. eine militärische Ausbildung erhielt. Abaaoud, der im Frühjahr 2015 nach Syrien zurückkehrte, wollte C.s Erfahrung als Schleuser offenbar erneut nutzen.
Als Abaaoud ihn im Juni 2015 vorschickte, kommunizierte er mit Bilal C. über Facebook, mit einem Konto, dass C. extra für Abaaoud einrichten ließ: "Protocole Walodiwalo" - insgesamt 429 ausgetauschte Einzelchats innerhalb eines Monats konnten die Ermittler zwischen Abaaouds Konto und C.s Konto feststellen. C. hatte sie gelöscht, sagte jedoch aus, dass er Fotos von Grenzübergängen schickte und Telefonnummern von Schleusern besorgte, etwa in Belgrad.
Aus ausgewerteten Computern und Telefonen konnten die Ermittler außerdem rekonstruieren, wonach die Männer auf ihrer Reise suchten: nach Hotels in Prag, Gebetszeiten in Athen, Fähren zwischen Italien und Griechenland, dschihadistischen Radiosendern, einer Liste von Schengenländern und wo man Taser-Pistolen kaufen kann. Die Schleusung sei 2015 sehr viel schwieriger geworden als 2014, sagte C. den Beamten vom BKA.
Einige Terrorkämpfer kamen über Balkanroute
Bilal C. erlebte als Vorhut für Abaaoud das, womit auch viele echte Flüchtlinge konfrontiert waren. Fast täglich wechselten Grenzöffnungen oder -schließungen, es gab unvorhergesehene Kontrollen - er musste sich ständig an die sich im Umbruch befindende europäische Flüchtlingspolitik anpassen, um sich und seine Nachhut unbemerkt gen Norden zu bringen. Als sein gefälschter Pass in Ungarn auffiel, saß er zwei Wochen lang in einer Art Arrest. Abaaoud wurde laut C. in Budapest von einem schwarzen Golf 4 mit belgischem Kennzeichen abgeholt. C. selbst gelangte gemeinsam mit El Khazzani Anfang August nach Belgien.
Dass C. in Brüssel war, bestreitet er. C. will sich in Deutschland abgesetzt haben, wo er Asyl beantragte, bevor die von ihm geschleusten Terroristen zur Tat schritten. "Mein Mandant hatte keine Kenntnis der Anschlagspläne", sagt sein Anwalt Andreas Fleuster. Abaaoud wurde wenige Tage nach den Pariser Anschlägen bei einer Polizeirazzia im Vorort Saint-Denis erschossen.
Dass IS-Terroristen ihre Kämpfer über die Balkanroute nach Westeuropa schleusen würden, hatten die deutschen Sicherheitsbehörden lange für sehr unwahrscheinlich gehalten. Es sei für den IS zu gefährlich, Kämpfer ohne Sprach- und Ortskenntnisse auf die Reise zu schicken, hieß es. Doch inzwischen gab es auch in Deutschland zahlreiche Festnahmen.
Seit Dezember sitzt ein weiterer mutmaßlicher Helfer Abaaouds in Deutschland in Haft: Der Marokkaner Redouane S., ein Bekannter von Bilal C. Er soll in der türkischen Grenzstadt Edirne und in Athen sogenannte Safe Houses betreut haben. C. hat ausgesagt, dass S. sich dort um den Haushalt gekümmert hat. Auch S. hat in Deutschland Asyl beantragt. Bei seiner Anhörung gab er wahrheitsgemäß an, welche Flüchtlingsroute er benutzt hatte: Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Österreich, Deutschland. Dass er dabei zwischendurch wochenlang für den späteren Terroristen Abaaoud kochte und putzte, verschwieg er jedoch.