"Islamischer Staat":Böse sein, Gutes tun

Islamischer Staat Irak Syrien

Ungewollte Hilfe: Militante Dschihadisten mit einem erbeuteten Fahrzeug aus US-amerikanischer Produktion (Archivbild)

(Foto: AP)

Die Terrormiliz IS verteilt Wohltaten und baut staatsähnliche Strukturen auf. Die USA haben das nach dem zweiten Weltkrieg erfolgreich in Deutschland vorgemacht. Im Irak hatten sie diese Lektion schon wieder vergessen.

Kommentar von Willi Winkler

Ob im Irak oder in Syrien - der Islamische Staat führt ein blutiges Regime, aber seine Finanzen hat er, wie die jüngsten Funde belegen, bestens im Griff. Kontoführung, Sozialkosten, Fürsorge: Im Nahen Osten entsteht ein Mustersystem, als ob es sich für die Aufnahme in die EU empfehlen und deren Stabilitätskriterien einhalten müsste.

Es ist eine Katastrophe: Vom Irak, gegen den die USA einen sinnlosen Rachefeldzug führten, sollte, so der hochgemute Plan, eine Welle der Demokratisierung in die islamischen Länder ausgehen. Nation building hieß das Zauberwort, aber es wurde viel zerstört und wenig aufgebaut. Die einzige Gruppierung, die in dieser Gegend in den vergangenen zwanzig Jahren tatsächlich eine Art nation building betrieben hat (die freilich eher ein community building ist), ist jene Terrororganisation, die sich "Islamischer Staat" nennt. Pech, dass bisher von dort kein auch nur halbwegs demokratischer Vorgang bekannt geworden ist. Stattdessen herrscht die schlimmste Vormoderne, werden Frauen geknechtet und Homosexuelle aussortiert, urteilt eine religiös begründete Gerichtsbarkeit und wird ein heiliger Krieg gegen die sogenannten Ungläubigen geführt.

Hotspot für die radikalisierte Jugend der Welt

Dieser so gut organisierte IS hat sich zum Hotspot für die radikalisierte Jugend der Welt entwickelt. Die Lockung des Dschihad, als angenehm unterkomplexe Pop-Botschaft übers Internet verbreitet, ist als ideologisches Angebot möglicherweise doch stärker als die Aussicht auf eine schlecht bezahlte Arbeit im Konsumismus der westlichen Welt. Der Islamische Staat steht mit Rat und Tat und logistischer Vollversorgung bereit.

Nirgendwo auf der ganzen Welt sind amerikanische Turnschuhe, amerikanische Filme, amerikanische Autos begehrter als in den vorderasiatischen Ländern, also dort, wo die USA gelegentlich von Staats wegen und unter Berufung auf Allah und seinen Propheten als der große Satan bekämpft werden. Aber wer es sich leisten kann und über die entsprechenden Verbindungen verfügt, schickt seine Kinder zum Studium in genau diese USA.

Doch in ihrem bis an die Zähne bewaffneten Großmannstum haben es die Amerikaner versäumt, sich um das Wichtigste zu kümmern, nämlich darum, das geschlagene Land wieder aufzubauen und den Menschen zu beweisen, dass das viel beschworene westliche Wertesystem nicht nur das bessere, sondern das mit Zukunft ist. So kam statt der Demokratie der Dschihad.

Schokolade, verteilt vom Panzer herab

Dass nation building tatsächlich funktionieren kann, ohne junge Männer mit Sprengstoffgürteln und der vagen Aussicht aufs Paradies in den Tod zu schicken, wurde schon einmal bewiesen. Niemand weiß das besser als die Deutschen, bei denen nach einem Krieg, im April und Mai 1945, plötzlich der Feind vor der Tür stand. Das waren höfliche, hilfsbereite Soldaten - die Uniformhemden gebügelt und ihre Träger keine martialischen Gestalten, vielmehr mit kindlicher Freude entschlossen, vom Panzer herab Schokolade zu verteilen.

Jahrelang hatten die Vereinigten Staaten Material über das Land gesammelt, gegen das sie im Dezember 1941 in den Krieg eingetreten waren. Sie wussten viel über Protestanten und Kommunisten, über Nazis und Mitläufer, sie wussten vom Dauerfeuer einer Propaganda, das die Deutschen als zur Weltherrschaft berechtigt und alle anderen für Untermenschen erklärt hatte. Die Sieger standen vor einer schier unmöglichen Aufgabe: ein längst nicht von seiner abgöttischen Liebe zum Führer kuriertes Volk musste in kurzer Zeit umerzogen werden - statt Herrenmenschentum plötzlich Demokratie, statt Endsieg europäische Partnerschaft, statt Hungerrationen: endlich wieder zu essen.

Die Sieger gingen mit den Besiegten vergleichsweise milde um, aber vor allem boten sie ihnen eine Alternative, eine Perspektive, eine Zukunft nach der grausigen Vergangenheit. Nach 1945 hat es in Deutschland durch eine Art Bestechung geklappt: mit Hilfe der Liebesgaben eines großmütigen Besatzers, der zusammen mit der lang entbehrten Schokolade die von niemandem vermisste Demokratie ins Land brachte. So gelang es, nicht nur die plötzlich unbeschäftigten Wehrmachtssoldaten zu integrieren, sondern auch viele der 7,5 Millionen NSDAP-Mitglieder zu bekennenden Demokraten umzuerziehen.

Terror-Organisation IS - Blick ins Innenleben

Von Sozialsystem bis Personalbögen: Der Islamische Staat heißt nicht nur so, er handelt auch wie ein Staat. Geheime Dokumente, die SZ, NDR und WDR vorliegen, gewähren einen Einblick in die staatlichen Strukturen der Terror-Truppe. Lesen Sie die Reportage in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung und in der digitalen Ausgabe für Tablet, Smartphone und Windows 8.

"Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen für den erträglichern zu halten."

Vorderasien ist nicht Europa und der Irak nicht Deutschland. Bei aller Unvergleichbarkeit gilt aber: Wer so vieles zerstört, muss nach dem Sieg auch wieder aufbauen, sonst verliert er am Ende doch. Der Eroberer ist dafür zuständig, dass die Elektrizität wieder funktioniert, dass die Kanalisation arbeitet und die Post zugestellt wird. Im Irak wurden Polizei und Armee entwaffnet, weil sie Saddam Hussein gedient hatten, womit genau das Machtvakuum entstand, in dem sich der Islamische Staat ausbreiten konnte. Nichts hätte den Amerikanern leichter fallen müssen, als die ehemaligen Gegner mit Wohltaten zu überschütten.

Der Tempelherr in Lessings Toleranzdrama Nathan der Weise, ein junger Mann, der dem frommen Selbstmord näher ist als dem Leben auf Erden und nicht weiß, ob er in den Osten gehört oder in den Westen, weiß doch eins: "Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen für den erträglichern zu halten." Was nach gut zweihundert Jahren Aufklärung verloren zu gehen droht, ist das Selbstbewusstsein des Westens, dessen Wertesystem sich im Jahrhunderte langen erbitterten religiösen Streit um die einzig wahre Lehre herausgebildet hat. Die Überlegenheit des Westens ist dann schon keine mehr, wenn sie nur behauptet und nicht auch bewiesen wird. Diese Werte sind hoffentlich mehr als Turnschuhe, Autos und Filme. Sie bestehen in der Freiheit des Denkens - einer Freiheit, die eben nicht heißt, nichts mehr zu verlieren zu haben, sondern sie zu nutzen mit allem, was die offene Gesellschaft selbst ihren Feinden bietet.

Im 13. Jahrhundert schrieb der persische Mystiker Dschalal ad-Din ar-Rumi schlichte Verse wie diese: "Wenn jemand dich fragt, was getan werden muss,/zünde die Kerze an in seiner Hand." Schon eine einzige Kerze wäre nicht schlecht; die Welt drumherum ist finster genug.

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