Süddeutsche Zeitung

Islam:"Unser Kalifat ist rein spiritueller Natur"

Die Ahmadiyya ist eine der weltweit am schnellsten wachsenden Religionsgruppen - in Karlsruhe treffen sich 40 000 Gläubige. Die Gemeinde gilt als offen, konservativ und politisch bestens vernetzt.

Von Benjamin Moscovici, Karlsruhe

Als er ein Kind war, lebte Shabeeer Ahmad in Pakistan, musste in Lahore in Bäckereien schuften und wusste noch nicht, was es bedeutet, ein Mitglied der Ahmadiyya-Gemeinde zu sein. Das änderte sich schlagartig im Jahr 1974. In diesem Jahr exkommunizierte die islamistisch dominierte Regierung in Pakistan die Anhänger der Gemeinde per Parlamentsbeschluss. Den Ahmadis, die sich selbst als Muslime verstehen, wurde verboten, ihren Glauben zu leben. Ihre Moscheen durften nicht mehr Moscheen heißen, sie durften die islamischen Grußformeln nicht mehr in den Mund nehmen, ihre Gebete nicht mehr sprechen. Zuwiderhandeln wurde als Beleidigung des Islam verstanden und schwer bestraft, manchmal mit dem Tod.

Shabeeer Ahmad ist einer von etwa 40 000 Ahmadis, die an diesem Wochenende zur Jahresversammlung, der Jalsa Salana, nach Karlsruhe gekommen sind. Sie beten gemeinsam, sie hören religiöse Vorträge. Aber vor allem ist das Ganze wie ein gigantisches Familienfest. Mit einem Unterschied: Männer und Frauen sind hier strikt getrennt. Ahmad ist mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und der Tochter nach Karlsruhe gekommen, um für seine Glaubensbrüder Jelebi zuzubereiten, eine klebrige Süßspeise aus Teigfäden. Es ist seine schönste Erinnerung an die alte Heimat.

Shabeeer Ahmad floh nach der Entscheidung von 1974 aus Pakistan, mit ihm verließen damals Zehntausende Ahmadis das Land. Baden-Württemberg sollte Ahmads neue Heimat werden.

Geschätzt als Partner der Politik

Die Ahmadiyya gilt als konservativ, aber offen. Die meisten Mitglieder der Gemeinde halten sich an die Gebote des Koran. Sie beten fünfmal am Tag, fasten im Ramadan, trinken keinen Alkohol und achten auf die Keuschheit der Frauen. Weltweit ist die Ahmadiyya eine der am schnellsten wachsenden Religionsgruppen. In Deutschland ist die Gemeinde deutlich besser organisiert als andere muslimische Gemeinschaften. In Hessen und Hamburg sind sie sogenannte anerkannte Körperschaften des öffentlichen Rechts und haben dadurch die Möglichkeit, islamischen Religionsunterricht an Schulen anzubieten. Auf Landes- und Bundesebene werden sie als Partner geschätzt. Aber türkische und arabische Islamverbände boykottieren die Ahmadis immer wieder.

Der Gründer der Ahmadiyya bezeichnete sich selbst als Messias und sah sich als Erneuerer des Islam, ein Anspruch, der für andere Muslime nur schwer hinzunehmen ist. Für sie gilt es als gesetzt, dass der Prophet Mohammed der letzte Gesandte Gottes war und die göttliche Botschaft an die Menschen mit ihm vollendet wurde. Immer wieder kommt es daher zu Streitigkeiten. Und auch in der Öffentlichkeit gibt es immer wieder Irritationen darüber, dass der Anführer der Ahmadis bis heute Kalif heißt und einem Kalifat vorsteht. Wollen die Ahmadis einen islamischen Staat in Europa gründen?

Ahmadiyya

Die Ahmadiyya, die sich als Reformbewegung des Islam versteht, wurde 1889 in Indien von Mirza Ghulam Ahmad gegründet. Er bezeichnete sich als Messias. Nach seinem Tod übernahm Nuur ud-Din das spirituelle Erbe des Glaubensgründers und gab sich den Titel: Kalif, Nachfolger des Messias. Seit der Teilung von Indien und Pakistan 1947 lebt die Mehrheit der Ahmadis im muslimischen Pakistan. 1974 wurden Zehntausende zur Flucht gezwungen, als die pakistanische Regierung die Ahmadis per Parlamentsbeschluss zu Nichtmuslimen erklärte. Heute gilt die Ahmadiyya als eine der am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften der Welt, vor allem in Afrika wenden sich Muslime dieser auf Frieden ausgerichteten Strömung des Islam zu. Die Ahmadiyya hat nach eigenen Angaben weltweit zehn Millionen, in Deutschland 45 000 Mitglieder. Benjamin Moscovici

Seine Heiligkeit Mirza Masroor Ahmad, fünfter Kalif, Nachfolger des Messias, so sein Titel, sagt: "Nein, unser Kalifat ist rein spiritueller Natur. Wir haben keinen politischen Anspruch. Wir wollen die Muslime vereinen und Liebe in die Welt bringen." Aber so ganz unpolitisch ist die Ahmadiyya nicht. Ihr Wachstum beruht auf einer umtriebigen Missionstätigkeit. Die Veranstaltung in Karlsruhe wird vom eigenen Fernsehsender Muslim Television Ahmadiyya auf Deutsch, Englisch, Urdu und Arabisch in die ganze Welt gesendet. Die Gemeinde pflegt beste Kontakte zu Politik und Medien.

"Ich hätte mir gewünscht, dass Martin Schulz kommt"

In Kanada wurde der Kalif von Premierminister Justin Trudeau vom Flughafen abgeholt, in London begrüßte ihn Theresa May, und Martin Schulz hieß ihn als Präsident des Europäischen Parlaments in Brüssel willkommen. Dennoch: Trotz all der guten Beziehungen sind dieses Jahr keine Spitzenpolitiker nach Karlsruhe zur Jalsa Salana gekommen. Einige Ahmadis haben das Gefühl, dass sich Schulz und Merkel im Wahlkampf nicht auf einer großen muslimischen Veranstaltung fotografieren lassen wollen. Zu sensibel seien womöglich die Themen Islam, Migration und Integration.

Von den Sozialdemokraten ist nur Oskar Helmerich gekommen. Ausgerechnet der Mann, der die AfD in Thüringen mit aufgebaut hat, für die Partei in den Landtag gewählt wurde und erst im April 2016 zur SPD gewechselt ist. Er sagt: "Ich hätte mir gewünscht, dass Martin Schulz kommt. Hier hätte er ein Zeichen für Religionsfreiheit setzen und sich auf die Seite der Verfolgten stellen können." Er selbst richtet später eine kurze Rede an die versammelten Ahmadis. Am Ende klatschen die Gläubigen nicht. Sie drücken ihren Applaus anders aus. Ein Sprecher ruft von der Bühne: Takbir! Und aus dem Publikum antwortet es aus zehntausend Kehlen: Allahu Akbar! Im Wechselchor geht es weiter: Oskar Helmerich? Er lebe hoch! Deutschland? Es lebe hoch! Takbir! Allahu Akbar!

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Quelle:
SZ vom 28.08.2017
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