Süddeutsche Zeitung

Islam:Die uralte Feindschaft zwischen Schiiten und Sunniten

Die Spannungen zwischen Iran und Saudi Arabien halten derzeit die Welt in Atem. Die Wurzeln des Konflikts reichen bis ins 7. Jahrhundert zurück.

Von Markus C. Schulte von Drach

Die Beziehungen zwischen Riad und Teheran sind auf einen neuen Tiefpunkt gefallen, nachdem Saudi-Arabien dem Iran vorwirft, den schiitischen Huthi-Rebellen im Jemen Raketen zu liefern. Außerdem kritisieren die Saudis die Rolle Irans im Libanon, wo die von Teheran unterstützte Hisbollah angeblich ein Mordkomplott gegen den Präsidenten geschmiedet haben soll.

Dass sich die beiden Staaten nicht gut vertragen, hatte sich zuletzt im syrischen Bürgerkrieg deutlich gezeigt. Riad finanzierte islamistische Aufständische, die Diktator Baschar al-Assad stürzen wollen, während Teheran das Regime in Damaskus nicht nur mit Waffen unterstützt, sondern Hisbollah-Kämpfer aus dem Libanon sowie eigene Soldaten nach Syrien schickt. Das Land ist zu einer Arena für das Ringen der beiden Rivalen um möglichst großen Einfluss im Nahen Osten geworden.

Dass die beiden Staaten so verfeindet sind, hängt mit der Religion der Machthaber in beiden Ländern zusammen. Die meisten Saudis sind Sunniten, das Königshaus hat den extrem konservativen sunnitischen Wahhabismus zur Staatsreligion gemacht. Die meisten Menschen in der Islamischen Republik Iran dagegen sind Schiiten. Im syrischen Bürgerkrieg spiegelt sich auch die Spaltung in der weltweiten Gemeinschaft der Muslime wieder. Andere Beispiele aus jüngster Zeit sind die Kämpfe und Konflikte zwischen beiden Gruppen im Irak und der Umgang der Terroristen des sogenannten Islamischen Staates mit Andersgläubigen: Während Christen und Juden unter einer Sondersteuer dort überleben könnten, haben Schiiten grundsätzlich nur die Wahl zwischen Flucht, Annahme des sunnitischen Glaubens - oder dem Tod.

Gespaltene Religion - Sunniten und Schiiten

Unter den Gruppen, die Muslime weltweit bilden, ist die der Sunniten die mit Abstand größte: Etwa 90 Prozent gehören ihr an. Die zweite große Gruppe bilden die Schiiten, die auch in einigen Staaten die Bevölkerungsmehrheit darstellen: Im Iran sind es mehr als 90 Prozent, in Aserbaidschan, im Irak und Bahrain zwei Drittel bis 70 Prozent - wobei das Land auf der arabischen Halbinsel von einem sunnitischen Königshaus beherrscht wird, das schiitische Proteste während des Arabischen Frühlings mit Gewalt beendete.

In anderen Ländern stellen Schiiten immerhin große Teile der Bevölkerung: Im Libanon und in Kuwait sind es fast 30 Prozent. Im Jemen sind es etwa 37 Prozent - hier kämpfen derzeit die schiitischen Huthi - angeblich mit iranischer Hilfe - gegen die Regierung, die von Saudi-Arabien unterstützt wird. In Syrien sind es etwa 17 Prozent, in den Vereinigten Arabischen Emiraten bis zu 20 Prozent und in Saudi-Arabien selbst etwa zehn Prozent.

Kämpfe um die Nachfolge Mohammeds

Die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten erfolgte bereits früh in der Geschichte des Islam. Nach dem Tod des Religionsgründers Mohammed (632) brach ein Streit darüber aus, wer Nachfolger des Propheten werden könnte. Die Mehrheit der Muslime setzte durch, dass dieser unter den Anführern aus dem Stamme Mohammeds, den Quraisch, gewählt werden sollte. Diese Gruppe wird als Sunniten bezeichnet. Der Begriff leitet sich von dem Wort Sunna, Brauch, ab. Für die Sunniten beinhaltet al-Sunna die Überlieferungen und Verhaltensnormen, die auf den Propheten Mohammed und seine frühen Anhänger zurückgehen.

Die Sunniten - beziehungsweise ihre Vorgänger - wählten einen Vertrauten und Schwiegervater Mohammeds, Abu Bakr, zum ersten weltlichen und geistigen Führer der islamischen Gemeinde (Umma), dem Kalifen. Auf ihn folgten Umar Ibn al-Chattab (ebenfalls ein Schwiegervater Mohammeds) und Uthman Ibn Affan (Schwiegersohn Mohammeds).

Eine andere Gruppe, die Schiiten, forderte dagegen nach dem Tode Mohammeds, nur ein Verwandter des Propheten dürfte sein Nachfolger sein. Infrage kam ihnen zufolge dafür nur dessen Cousin und Schwiegersohn Ali Ibn Abi Talib. Dieser wurde 656, nach dem Tod der ersten drei Nachfolger, tatsächlich zum Kalifen gewählt.

Für die Schiiten, deren Name sich auf die "Schia Ali" (von "Partei Alis") bezieht, waren die drei vorherigen Kalifen keine rechtmäßigen Nachfolger Mohammeds. Und auch nur Söhne Alis, also Enkel Mohammeds, kamen als nächste Kalifen in Frage.

Während weiterer Konflikte um die Führung wurde Ali 661 ermordet. Mit seinem Sohn Hasan, einem Enkel des Propheten, gab es aus Sicht der Schiiten den nächsten Nachfolger. Sein sunnitischer Konkurrent Muawiya ibn Abu Sufyan war Hasan allerdings militärisch überlegen, weshalb Mohammeds Enkel seine Ansprüche ihm zuliebe fallen ließ. Muawiya, der ehemalige Sekretär Mohammeds, ließ sich zum Kalifen ausrufen, führte die Erbfolge ein und begründete so die Dynastie der Umayyaden. Ein weiterer Enkel Mohammeds, Hussein, starb 680 bei einer Schlacht mit Anhängern von Jasid I., der als Sohn des Kalifen Muawiyas nun Kalif war.

Imame und Kalifen

Nachdem die Schiiten nach Ali keinen leiblichen Nachfahren Mohammeds als weltlichen und geistigen Führer durchsetzen konnten, entwickelte sich unter ihnen das Konzept der geistlichen Herrschaft durch einen Imam aus der Familie Alis.

Die weltliche Herrschaft der Kalifen, wie es sie bei den Sunniten gab, erkennen sie nicht an. Hussein gilt ihnen als Märtyrer, sein Todestag ist für sie ein wichtiger Trauertag. Die Grabstätten von Ali Ibn Abi Talibs in Nadschaf und von Hussein in Kerbala (beide im Irak) gehören zu den bedeutendsten Heiligtümern der Schiiten.

Auch wenn auf Ali sunnitische Kalifen folgten, ist für Sunniten heute der Cousin und Schwiegersohn Mohammeds der letzte der "vier rechtmäßigen Kalifen". Alle späteren Kalifen waren umstritten. So folgten auf die Kalifen-Dynastie der Umayyaden die der Abbasiden und Gegenkalifate wie das der Fatimiden. Das bislang letzte Kalifat - das osmanische - wurde durch die türkische Regierung 1924 abgeschafft. Muslimische Herrscher, die Anspruch auf das Kalifat erhoben, konnten sich nicht mehr durchsetzen.

Heute unterscheidet der sunnitische Glaube vier Rechtsschulen, die die Sunna unterschiedlich auslegen - jedoch alle als rechtgläubig gelten. Eine konservative und dogmatische Form des sunnitischen Glaubens, allerdings keine eigene Rechtsschule, ist der Wahhabismus, der sich auf die hanbalitische Rechtsschule bezieht und in Saudi-Arabien de facto Staatsreligion ist. Ebenfalls konservativ sind die Salafisten: Sunniten, die eine Gesellschaft errichten wollen, die dem Ur-Islam des 7. und 8. Jahrhunderts entsprechen soll. Die Lehren des Salafismus und des Wahhabismus sind heute weitgehend identisch.

Auch die Schiiten haben sich in verschiedene Gruppen aufgespalten, die sich vor allem in der Zahl der als unfehlbar anerkannten Nachfahren und Nachfolger Mohammeds (Imame) unterscheiden: Die Imamiten (Zwölfer-Schiiten) leben hauptsächlich im Iran, Irak und im Libanon. Der zwölfte Imam lebt ihrem Glauben zufolge im Verborgenen, wird am Ende der Welt als "Mahdi" auftreten und ein Reich des Friedens errichten. Darüber hinaus gibt es die Ismailiten (Siebener-Schiiten) in Syrien, Afghanistan, Pakistan und Indien und die Zaiditen (Fünfer-Schiiten) im Jemen.

Eine Gruppe, die gewissermaßen eine schiitische Sekte darstellt, sind die Alawiten, die hauptsächlich in Syrien, der Türkei und im Libanon leben. Mit diesen häufig verwechselt werden die Aleviten, die vor allem in der Türkei leben. Deren Glaube entwickelte sich zwar aus dem Schiitentum und hat mit diesem immer noch die Verehrung des Kalifen Ali gemeinsam. Ihre Religion weist jedoch deutliche Unterschiede zu der der Schiiten und Sunniten auf, so dass sie eine eigenständige Konfession darstellen.

Ibaditen

Eine dritte größere muslimische Gruppe sind die Ibaditen, die allerdings fast nur in Oman leben und dort die Bevölkerungsmehrheit bilden. Sie sind aus den Charidschiten hervorgegangen, die bereits den dritten und vierten Kalifen ablehnten und sich so von den übrigen Muslimen abtrennten.

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