Süddeutsche Zeitung

Islam:Das Gift des Generalverdachts

So viele Repräsentanten der Muslime in Deutschland sehen nun Anlass, sich eilig vom Terror zu distanzieren. Es ist überaus beschämend, dass solche Worte jetzt wieder notwendig sind.

Kommentar von Detlef Esslinger

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde sagt: "Wir Muslime müssen den Terror jetzt für jeden laut hörbar verurteilen." Sein Kollege vom Zentralrat der Muslime führt aus, die Terroristen führten Krieg gegen die Menschlichkeit, "und damit auch direkt gegen den Islam". Acht muslimische Verbände erklären, die Muslime stünden gegen Terror und jede Form von Gewalt. Eigentlich ist es beschämend, dass solche Worte jetzt offenbar wieder notwendig sind.

Diese Muslime äußern sich so nicht, weil sie früher vielleicht anders gesprochen und nun etwas geradezurücken hätten. Sie haben Anlass dazu, weil sie derzeit erneut beobachten können: Von Trauer und Zorn ist es bei allzu vielen Mitmenschen nicht weit bis zum Generalverdacht. In Deutschland geht es zwar nicht zu wie in der Slowakei, wo sich der Ministerpräsident nun damit brüstet, "jeden einzelnen Muslim" zu überwachen, der sich auf dem Gebiet seines Landes befinde. Doch wie labil das Klima ist, kommt ja nicht nur in Foren sogenannter sozialer Medien zum Ausdruck - sondern auch im Satz des CSU-Karrieristen Söder, der mit "Nicht jeder Flüchtling ist ein IS-Terrorist, aber . . ." begann. Wer in dieser Weise spricht, der raunt den Generalverdacht geradezu herbei.

Es liegt wohl im Wesen des Menschen, sehr schnell nicht nur Erklärungen, sondern stets auch Schuldige haben zu wollen; als sei es nur so möglich, Unfassbares zu fassen. Die Schnelligkeit geht jedoch, um das Mindeste zu sagen, sehr oft zu Lasten der Präzision. Weil über die Täter - die Individuen - noch fast nichts bekannt ist, werden sie einer Gruppe zugeordnet, die sodann in Haftung genommen wird. In jeder nächstbesten Beobachtung findet sich scheinbar ein Beleg. Nach dem Muster: War es nicht bezeichnend, wie diffus am Montag der Imam in Chartres redete, in dessen Moschee sich wahrscheinlich der Attentäter Ismaël Omar Mostefaï herumgetrieben hat?

Von einem auf alle zu schließen, war schon immer zersetzend

Von einem auf alle zu schließen, war aber schon immer zersetzend - was in diesem Fall heißt: im Sinne der Mörder, die ja geradezu wollen, dass eine Gesellschaft ihren inneren Frieden verliert. Es sind aber stets Individuen, die einer Situation gewachsen sind oder nicht, die morden oder retten, die hetzen oder versöhnen. Ja, Gruppen haben Verantwortung. Aber sie sind nicht zur Verantwortung zu ziehen - erst recht nicht so pauschal definierte wie "die Muslime".

Wer das versucht, der agiert zutiefst menschenfeindlich, ganz gleich, bei welchem Thema und im Namen welcher Weltanschauung. Die Verantwortung muslimischer Repräsentanten ist, noch stärker als bisher gegen Radikalisierung zu kämpfen: Wer sich später dem "Islamischen Staat" anschließt, zeigt sich zuvor eher in ihrem Milieu als in dem des katholischen Schützenvereins.

Aber wenn Muslime nun permanent erklären sollen, sie seien gegen Terror und Gewalt, ist das auch deshalb beschämend, weil die meisten Menschen, die der IS ermordet und die vor ihm fliehen, Muslime sind. Es wird sie kränken, wie viel Anteil die Welt nun an den Toten von Paris nimmt, und wie wenig an jenen von Beirut. Zwei IS-Mörder hatten dort am Donnerstag, einen Tag vor dem Massaker von Paris, 43 Menschen mit in den Tod gerissen, 200 weitere schwer verletzt.

Die meisten Medien haben es nur kurz berichtet (und ihr Publikum hat auch nicht mehr verlangt). Schon wahr: Viele Europäer waren schon mal in Paris, aber nicht in Beirut, und wer weder die eine noch die andere Stadt kennt, dem fallen zu Paris trotzdem zehn Sehenswürdigkeiten ein, zu Beirut aber nur der libanesische Bürgerkrieg; aus den Achtzigerjahren. Doch nicht alles, was sich erklären lässt, ist deshalb richtig oder gar gut.

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SZ vom 17.11.2015/dayk
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