Die Vermummten sitzen in den kargen Bergen unter einem ausgezehrten Busch, der Mann in der Mitte gibt den Vorsänger, die anderen mühen sich mit dem Refrain. Die jungen Araber zeigen allergrößten Enthusiasmus, können überhaupt nicht singen - und dass sie sich bei dem Gekrächze auf Schnellfeuergewehre stützen, lässt die Szene noch schräger wirken. Rund um die Sänger aufgereiht steht weiteres Kriegsgerät: Maschinengewehre, Raketen, Panzerfäuste.
Wäre es Monty Python, wäre es ziemlich unterhaltsam. Die Sänger mit den Hassmasken aber machen keinen Spaß: Sie gehören zur Gruppe "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien" (Isis), der bedrohlichsten Untergrundtruppe seit Osama bin Laden. Das Lied, das die Fundamentalisten singen und als Video ins Internet stellen, gilt der Befreiung ihrer Kampfgenossen in einem libanesischen Gefängnis: al-Qaida a cappella, verbunden mit der Drohung, dass Isis in absehbarer Zeit in Libanon angreifen könnte. Vorerst machen die Kämpfer der Al-Qaida-Splittergruppe aber Syrien und Irak unsicher.
In Syrien gelten sie als stärkste Truppe unter den Anti-Assad-Rebellen. Und im Irak haben Isis-Kämpfer gerade Mossul erobert, die zweitgrößte Stadt, Armee und Polizei in die Flucht geschlagen, bis zu 3000 militante Gesinnungsgenossen aus den Gefängnissen befreit und das türkische Konsulat besetzt. 48 Türken nahmen sie als Geiseln, auch den Generalkonsul. Die türkische Regierung sprach sogar von 80 Geiseln. Außenminister Ahmet Davutoglu drohte mit "härtester Vergeltung", sollte einer der Geiseln etwas geschehen. Fast eine halbe Million Menschen seien aus Mossul und Umgebung geflohen, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. Sie warnt wie die UN vor einer Katastrophe für die Menschen in der Region.
Widerstand zu leisten traut sich niemand
So steht der Koranisten-Chor auf absurde Weise für die derzeit bedrohlichste sunnitische Militanten-Armee des Nahen Ostens. Mittlerweile kontrollieren ihre Bataillone nicht nur Mossul und die umliegende Provinz Ninawa. Die Militanten mit den schwarzen Flaggen überrannten in der benachbarten Provinz Salahidin die Stadt Tikrit, Herkunftsort von Saddam Hussein, und marschieren auf die Kurden-Provinz Kirkuk, eines der Zentren der irakischen Ölindustrie. Aktiv sind sie auch in der Provinz Anbar, Falludscha halten sie seit Januar besetzt.
Widerstand gegen Isis zu leisten traut sich im Irak derzeit kaum noch einer. Nachdem die meisten Soldaten und Polizisten in Mossul beim Isis-Ansturm die Flucht ergriffen hatten, gab ein Oberst zu: "Unsere Sicherheitskräfte sind zusammengebrochen." Ein anderer Offizier sagte: "Sie sind bestens ausgebildet im Häuserkampf. Das sind wir nicht. Wir brauchen eine ganze Armee, um sie wieder zu vertreiben."
Für Iraks Premier Nuri al-Maliki, der nach der Parlamentswahl noch kein neues Kabinett gebildet hat, wird die Bedrohung immer größer. Sein Versagen liegt auf der Hand: Er ist in Personalunion zum Amt des Regierungschefs Innen- und Verteidigungsminister, mithin für Armee und Polizei persönlich verantwortlich. Zudem hat sich die Isis-Offensive mit permanenten Angriffen und Attentaten in anderen Städten und Provinzen seit Monaten abgezeichnet. Die USA hatten Bagdad gewarnt, mit Informationen gefüttert. Washington ist nun "tief besorgt", fürchtet um die Stabilität in ganz Nahost und fordert eine "harte, koordinierte Reaktion".
Bagdad ist hilflos
Doch die USA tragen Mitschuld: Sie haben Malikis Truppe bis zum Abzug Ende 2011 für 25 Milliarden Dollar ausgebildet und bewaffnet. Jetzt zeigt sich, dass die mit modernem Gerät ausgestatteten Soldaten bis auf einige Spezialeinheiten wertlos sind. Wie will also Bagdad gegen die bestens koordiniert wirkenden Militanten vorgehen? Der Premier hat erklärt, er werde die Bevölkerung bewaffnen. Freiwilligen-Milizen aber werden gegen Isis wenig ausrichten: Nach Ansicht des Institute for the Study of War handelt es sich bei dem Al-Qaida-Ableger mit seiner Kampferfahrung im Irak und in Syrien schon fast um eine kleine, aber professionelle Armee.
Und sie wird weiter wachsen. Nach den jüngsten Erfolgen könnten neben den aus der Haft befreiten Militanten bisher noch nicht kämpfende radikale irakische Sunniten zu der Gruppe stoßen. Die Gruppe ruft auf, in die "Reihen der Brüder" zu treten. Vom Erfolg angelockt werden dürften auch Gotteskrieger aus Syrien. Isis kontrolliert jetzt ein Territorium, dass vom nordostsyrischen Raqqa bis ins irakische Mossul reicht. Die Kämpfer können ungefährdet aus dem Bürgerkriegsland Syrien über die Grenze wechseln. Ibrahim al-Sumeidi, Ex-Berater Malikis, sagt: "Mossuls Fall bedeutet, dass Isis seine irakische und syrische Front vereint hat."
Hilfe bringen könnten die kampferprobten kurdischen Peschmerga-Milizen. Aber die Kurden liegen mit Bagdad über Kreuz wegen der Verteilung der Öleinnahmen, der Zukunft der Stadt Kirkuk, einer Loslösung vom Irak. Solange Isis ihr Territorium nicht gefährdet, haben sie wenig Grund, Maliki zu helfen. Kurden-Premier Netschirwan Barzani sagte, Bagdad mache jede Zusammenarbeit unmöglich. Nur in der Ölstadt Kirkuk, die die Kurden beanspruchen, die aber außerhalb des offiziellen Kurdengebiets liegt, gehen die Peschmerga in Stellung. Angeblich kommt Verstärkung in die Stadt, die keine zwei Autostunden von Mossul und den Isis-Kämpfern entfernt liegt.