IS-Terror:Wie der IS im Internet Mitglieder rekrutiert

IS-Terror: Akquise von IS-Marionetten: Islamismus per Smartphone

Akquise von IS-Marionetten: Islamismus per Smartphone

(Foto: Stefan Dimitriov)
  • Der IS sucht über das Internet Täter, hetzt sie auf, und versucht sie zu möglichst grausamen Anschlägen zu bewegen.
  • Der Bundesnachrichtendienst (BND) spricht nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR inzwischen von "IS-Mentoren".
  • Auch Safia S. wurde über das Internet rekrutiert und gelenkt.
  • Geheimdienste und Polizeibehörden haben deshalb die Fahndung im Netz stark ausgebaut.

Von Lena Kampf, Georg Mascolo und Andreas Spinrath

Einen Mentor zu haben, das klingt gemeinhin nach etwas Gutem. Jemand mit Erfahrung, der Wissen und Urteilskraft mit einem anderen, meist Jüngeren, teilt. So jedenfalls wird das Wort verstanden, seit in Homers Odyssee die Person des Mentors den Sohn des Odysseus anleitet und berät, und ihm dabei hilft, seinen Vater aufzuspüren.

Bei deutschen Staatsschützern hat das Wort inzwischen noch eine andere Bedeutung. Es steht für eine neue, gefährliche Form des Terrorismus, für den Versuch des sogenannten Islamischen Staates (IS), über das Internet Täter zu finden, sie aufzuhetzen, zu möglichst grausamen Anschlägen zu bewegen - und sie dabei aus der Ferne anzuleiten. Der Bundesnachrichtendienst (BND) spricht nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR inzwischen von "IS-Mentoren". Das System ist ziemlich erfolgreich. Und möglicherweise ist es nirgendwo erfolgreicher als in Deutschland. "Wir beobachten dieses Phänomen seit gut einem Jahr, von Fall zu Fall in unterschiedlicher Intensität. Ein Grund dürfte in der zunehmenden Digitalisierung der Welt und dem damit einhergehenden geänderten Kommunikationsverhalten liegen", sagt Generalbundesanwalt Peter Frank.

"Lass es mich morgen machen, bitte", schrieb die damals 15-jährige Safia S. auf Englisch am Abend, bevor sie am 26. Februar 2016 einem Bundespolizisten in Hannover ein Küchenmesser in den Hals rammte und ihn damit lebensgefährlich verletzte. Ihr Chatpartner "Leyla" antwortete wenige Sekunden später: "Wenn du es gut geplant hast. Dann mach, was dich glücklich macht." Leyla ist ein Tarnname, wie der Mann im Chat mit der späteren Attentäterin zugab. Der Generalbundesanwalt, der den Chat nach der Tat rekonstruierte, hält ihn für ein IS-Mitglied, vermutlich in Syrien. Der Mann beauftragte Safia S., ein Bekennervideo zu drehen, das sie ihm dann auch schickte: "Übrigens, ich hatte keinen Niqab. Habe nur mein Gesicht verdeckt". Leyla schrieb zurück: "Möge Gott dich belohnen." Und er gab Tipps zur Tatausführung: "Bitte die Polizisten mit dir in eine Ecke zu kommen. Dann nimm die W. Aber du musst wissen, wie du den Apfel benutzt." Safia S. versteht seinen Code. "Was, wenn sie sagen, ich soll mitkommen?", fragte Safia S. "Sag ihnen, dass es hier etwas Angsteinflößendes gibt, und du ihre Hilfe brauchst. Und dann spielst du einfach." Safia S., so der Plan des IS, sollte den Polizisten nach der Messerattacke die Dienstwaffe klauen und weitere "Ungläubige" töten.

Der Plan ging nicht auf. Safia S. wurde am Hauptbahnhof Hannover von dem Kollegen des verletzten Beamten überwältigt und sitzt seitdem in Haft. Vor wenigen Tagen ist sie vor dem Oberlandesgericht Celle zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, ihr Verteidiger hat Revision gegen das Urteil eingelegt. Doch ist ihr Fall nur der erste von einer Vielzahl von Fällen, in denen Berater des IS den Attentätern vor der Tat zur Seite stehen. In drei der fünf im vergangenen Jahr verübten Anschläge und bei zahlreichen versuchten Anschlägen konnten die Ermittler eine virtuelle Hilfestellung feststellen. In Würzburg wurde der 17-jährige Flüchtling Riaz A. über Monate von einem bis heute nicht identifizierten Anleiter indoktriniert. Erfolglos versuchte er Riaz A. davon zu überzeugen, mit einem Auto statt mit einer Axt zuzuschlagen. Im Fall des Selbstmordattentäters Mohammad D., der sich nur sechs Tage später vor einem Weinlokal in Ansbach in die Luft sprengte, steht inzwischen fest, dass der IS-Mentor ihn regelrecht zur Tat drängte, als der noch zögerte: "Mann, was ist mit dir los? Vertrau Gott, und lauf zum Restaurant los."

Auch der in Leipzig festgenommene Dschaber al-Bakr stand mit mehreren mutmaßlichen IS-Anhängern in Verbindung, offenbar lebte mindestens einer von ihnen in der IS-Hauptstadt Raqqa.

Oft beginnt es mit einer Art Lebensberatung

Ein Muster zeichnet sich ab: Oft beginnt es in salafistischen Netzwerken mit einer Art Lebensberatung. Ist der Kandidat oder die Kandidatin radikal genug, wird er oder sie an spezielle Ansprechpartner verwiesen. Die Kommunikation erfolgt verschlüsselt. Ein besonders erfolgreicher Mentor des IS ist der Franzose Rachid Kassim. Der ehemalige Sozialarbeiter kümmerte sich zeitweise um Hunderte digitale Anhänger: Unter ihnen einer der Attentäter, die im vergangenen Juli einen 85-jährigen Priester in Nordfrankreich ermordeten.

Ob die sogenannten Mentoren sich kennen oder von zentraler Stelle koordiniert werden, ist nicht belegt. Es fällt jedoch auf, dass mindestens zwei der willigen deutschen Attentäter durch mutmaßliche Mitglieder des IS kontaktiert wurden, anscheinend, indem ihre Telefonnummer weitergereicht wurde. Bekannt ist zumindest, dass eine zentrale Stelle im IS die Attentate in Europa plant und dirigiert. Auch Safia S.' primäre Kontaktperson, die Australierin Shadi Jabar Khalil Mohammed, soll eine hochrangige IS-Rekrutiererin gewesen sein. In Ermittlerkreisen wird vermutet, dass sie den Kontakt zwischen Leyla und Safia S. vermittelt hat. Shadi Jabars 15-jähriger Bruder hatte Anfang Oktober 2015 in der australischen Stadt Parramatta einen Polizisten erschossen, sie selbst wurde im Mai 2016 bei einem amerikanischen Drohnenangriff getötet.

Erster Blick der Terrorfahnder gilt dem Handy

Inzwischen gilt der erste Blick der Terrorfahnder stets dem Handy der Verdächtigen. Mithilfe amerikanischer Geheimdienste und des FBI werden selbst verschlüsselte Chats bisweilen sichtbar gemacht. Derzeit untersuchen die Behörden, ob auch Anis Amri auf diese Weise angeleitet wurde - bisher steht das nicht fest. Ein Chat wurde bereits sichtbar gemacht, Amri kommunizierte am Tattag um 19.15 Uhr, kurz nach Verlassen einer Moschee in Berlin, mit einer nicht identifizierten Person: Sie möge mit ihm in Verbindung bleiben und für ihn beten. Später schrieb Amri: "Bin jetzt in der Fahrerkabine."

Der Trend gilt als besonders beunruhigend. Zuletzt waren die Zahlen von deutschen Dschihadisten, die zur Ausbildung zum IS reisen, zurückgegangen, zudem ist die Terrororganisation vor allem im Irak unter Druck geraten. Nun scheint ein neues System zu greifen, bei dem die Rekruten des IS kein Terror-Camp mehr besuchen müssen - Anwerbung und Anleitung verlagern sich ins Internet. Jeder Fall wird inzwischen akribisch untersucht, Geheimdienste und Polizeibehörden haben deshalb die Fahndung im Netz stark ausgebaut.

Im Bundeskriminalamt befassen sich Psychologen mit der neuen Tatform. Coaching, merken sie an, setze üblicherweise auf das persönliche Gespräch. Der IS hat dafür eine digitale Variante gefunden.

Beispielhaft ist der Fall des 16-jährigen Syrers Mohammad J., der im September in einem Kölner Flüchtlingsheim festgenommen wurde. Ihm wird die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat vorgeworfen. Ende Februar wird der Prozess gegen ihn eröffnet.

Wie wurde aus dem Jungen ein mutmaßlicher Terrorist, dem die Staatsanwaltschaft ein Bombenattentat zutraut?

Anfang 2016 erreicht J. mit seiner Familie Deutschland, die Familie aus Damaskus beantragt Asyl. J. plagen offenbar Fragen, für die er simple Antworten sucht. Im April kontaktiert er über Facebook einen Abu Jawad. Er sei als Muslim in Deutschland. Ob Jawad Mitglied vom IS sei? Ob er damit rechnen müsse, dass der IS ihn umbringen werde, weil er in Deutschland unter Ungläubigen lebe? Jawad antwortet nicht. Aber die Fragen werden nicht weniger. J. tippt sie in die Google-Suchleiste seines Mobiltelefons, auch in vielen der Abertausenden Chat-Nachrichten tauchen sie auf: Er will wissen, ob er Geld und Essen von Kanzlerin Merkel annehmen und bei Ungläubigen leben dürfe.

Es sind die Fragen eines Jungen, der mit seiner Familie auf einmal mitten in einer Welt gelandet ist, die ihm völlig fremd ist. Am 20. Mai ist plötzlich jemand da, der ihm Antworten gibt: Bilal.

Bilal findet offenbar den richtigen Ton, bewegt sich zwischen großem Bruder und Lehrer, wechselt zwischen Humor und Furor. Schnell vertraut Bilal Mohammad ein Geheimnis an: Er sei vom IS. Ob er ihn verrate? Mohammad zögert nicht. Nein, er werde ihn nicht verraten.

In den kommenden Monaten werden aus Facebook-Nachrichten verschlüsselte Telegram-Chats. Er habe ihm von den Anschlägen des IS in Deutschland erzählt, schreibt Bilal. Mohammad habe gesagt, dass die Deutschen gute Menschen seien und hilfsbereit. Ob ihm jetzt klar sei, warum? Mohammad solle ein Ungläubiger werden.

Aus den Antworten auf die Fragen eines 16-Jährigen werden die Befehle eines 24-jährigen IS-Mentors. Mohammad übernimmt offenbar die radikalen Ansichten des Verführers, sein Umfeld bemerkt die Veränderung. In einer geheimen Chatgruppe vermitteln mutmaßliche IS-Gefolgsleute den Bau einer Bombe, Bilal hilft mit einer Art Einkaufsliste für ein Attentat: eine Uhr, Feuerwerkskörper, Schwefel.

Wenige Tage vor der Festnahme befiehlt Bilal ihm, eine Bombe zu bauen. Er solle aber vorsichtig sein. Mohammad zweifelt noch einmal. Er will wissen, ob man die Deutschen töten dürfe. Bilals Antwort ist knapp: Er solle es tun.

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