IS-Terror:Der Mythos vom Kalifat

IS-Terror: Der Terrorist Abu Bakr al-Bagdadi bezeichnet sich selbst als Kalif.

Der Terrorist Abu Bakr al-Bagdadi bezeichnet sich selbst als Kalif.

(Foto: AFP)

Die Terrormiliz IS wurzelt in radikaler Ideologie, die sich auf den frühen Islam beruft. Mit der Herrschaftsform der direkten Nachfolger Mohammeds ist ihr brutales Vorgehen aber keineswegs vereinbar.

Kommentar von Wilfried Röhrich

Die Khomeini-Revolution in Iran vom Februar 1979 und die damit verbundene Re-Politisierung des Islam haben den Blick erstmals konkret auf den Islamismus gelenkt. Danach waren es die Terroranschläge vom 11. September 2001, die Schrecken auslösten, besonders in den Vereinigten Staaten.

Inzwischen geht eine globale Gefahr von der Terrormiliz Islamischer Staat aus, die militärisch hoch professionell vorgeht und bewusst Morde als Internetpropaganda nutzt. Dieser Dschihadismus ist eine militante Form des Islamismus, der sich, wie der Islamismus allgemein, als Politisierung des Islam darstellt. Das bedeutet, dass beim islamistischen Terror in seinen verschiedenen Ausprägungen der Islam nicht als Religion, sondern als politische Ideologie erscheint, auch wenn der Islamismus religiös begründet wird. Die Entwicklung bedarf der Erklärung.

Israel und die USA als Verursacher des muslimischen Identitätsverlusts

Mit der Islamischen Republik erreichte der seit den frühen 1970er-Jahren einsetzende Prozess der Ausbreitung des politischen Islam einen markanten Höhepunkt. Die Revolution gelang, weil sie - entgegen der Pahlewi-Monarchie - auf autochthone schiitische Werte zurückgriff. Im Februar 1979 entstand erstmals in der iranischen Geschichte unter Leitung des schiitischen Klerus eine religiös legitimierte Herrschaft. Ayatollah Ruhollah Khomeini entwickelte in diesem Kontext seine Doktrin der Wilayat al-faqih, der Herrschaft des anerkannten Gottesgelehrten.

Die Islamische Republik verfolgte lange eine aggressive Außenpolitik in Gestalt einer politischen Revolte gegen den Westen - vor allem gegen die Protagonisten der Verwestlichung und den vermeintlichen Verursachern des Identitätsverlustes der Muslime: gegen die Vereinigten Staaten und gegen Israel als Manifestation westlichen Einflusses auf die islamische Welt. Seither sind Islamismus und Dschihadismus in das kollektive Gedächtnis der westlichen Länder gerückt.

Ziel: Islamische Weltrevolution

Der tiefe Schock, den die Anschläge vom 11. September in Amerika auslösten, lässt sich kaum in Worte fassen. Die Terroranschläge waren ein kriegerischer Glaubensakt, und Bin Laden wollte sie als "Religionskrieg zwischen Iman/Glauben und Kufr/Unglauben" gewertet wissen.

Dem so orientierten Terrorismus entsprach seine offensive Strategie im Rahmen eines asymmetrischen Kriegs. Er wurde als ein Heiliger Krieg mit Dschihad-Kämpfern geführt, die sich als Glaubenskrieger verstanden. Die Legitimierung dieser kriegerischen Gewalt war mit dem Ziel verbunden, die Welt von der Vorherrschaft des Westens durch eine "islamische Weltrevolution" zu befreien, wie dies der Islamist und Theoretiker der Muslimbrüder, Sayyid Qutb, propagiert hatte.

Es kam zum amerikanischen "Krieg gegen den Terror" und zum Irakkrieg von 2003. Hierbei resultierte eine politisch prekäre Verbindung zur entstehenden IS-Miliz aus dem Sturz Saddam Husseins, mit dem die USA ein laizistisches Regime zerschlugen, das diktatorisch die religiösen Kollektive zusammenhielt. Sie setzten damit den Sunna-Schia-Konflikt frei.

Die Terrorfronten weiteten sich aus und zerstörten die staatlichen Strukturen. Es entstand die radikal-islamistische al-Qaida im Irak, die Abu Musab al-Sarkawi bereits mit IS-Methoden führte. Sein Nachfolger Abu Umar al-Bagdadi gründete 2006 den "Islamischen Staat im Irak".

Terror und Gewalt dienen als Instrumente zur Erringung universaler Herrschaft

Der "Islamische Staat im Irak und in Syrien" (ISIS), wie sich die Dschihadisten-Miliz unter dem neuen Anführer Abu Bakr al-Bagdadi seit April 2013 nannte, hat in weiten Teilen zweier Staaten mit brüchiger Staatlichkeit die Macht übernommen und damit dokumentiert, dass er den übergreifenden Dschihad zu führen bereit ist. Charakteristisch für die Eroberungen war nicht nur die dschihadistische Ideologie einer Terrorgruppe aus religiösen Fanatikern und nüchternen Strategen, sondern vor allem die hemmungslose Brutalität: die Gewalttaten gegen Schiiten, Alawiten und Christen.

Terror und Gewalt dienten hierbei als Instrumente, um eine universale Herrschaft in Gestalt der islamischen Staatsform des Kalifats zu errichten, das nach der Einnahme Mossuls zustande kam. Am 29. Juni 2014, dem ersten Fastentag im Monat Ramadan, konnte al-Bagdadi das lange geplante Kalifat ausrufen, mit dem sich seitdem der Name "Islamischer Staat" (IS) verbindet. Al-Bagdadi nennt sich von nun an "Kalif Ibrahimi - Gebieter der Gläubigen" und sieht sich als legitimen Nachfolger des Propheten Mohammed.

Das IS-Kalifat steht nicht in der Tradition der ersten vier Kalifen

Dieses Zurück zur großen Zeit der ersten vier (der so genannten "rechtgeleiteten") Kalifen (632-661) entspricht der islamistischen Ideologie, die im Kalifen noch immer den Stellvertreter des Propheten sieht. Die Tatsache, dass in der Epoche dieser ersten Kalifen große Reiche entstanden waren, forciert den expansiven Anspruch des "Islamischen Staats".

Ein Blick auf die islamische Geschichte zeigt allerdings, dass das IS-Kalifat nicht in der islamischen Tradition, vor allem nicht in der der ersten vier Kalifen steht. So wird sich für das Kalifat immer das Problem stellen, dass die brutale Gewalt einer Terrormiliz mit der islamischen Staatsform nicht vereinbar ist. Zur heutigen Weltpolitik steht das Kalifat al-Bagdadis in einem tief greifenden Antagonismus - der als dschihadistische Herausforderung gewollt ist.

Ob das Territorium des Kalifats, das sich im Februar 2015 von Ostsyrien bis zum Norden und Osten des Iraks erstreckte, gehalten oder auch auf weitere Staaten mit brüchiger Staatlichkeit ausgedehnt werden kann, ist eine offene Frage. Der "Islamische Staat" könnte sein Kalifat auf andere Einflussgebiete ausweiten - zumal die US-geführte internationale Anti-Terror-Koalition von einem langen Kampf gegen die Dschihadisten ausgeht. Außerdem beansprucht al-Bagdadi in Rivalität zur al-Qaida, über die islamische Welt hinaus den globalen Dschihad anzuführen.

Wilfried Röhrich, 78, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft. Er war bis 2001 Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft an der Universität Kiel.

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