IS-Rückkehrer:Der IS zerfällt - aber was wird aus den Anhängern?

Civilians Flee War As ISIL Frontline Shifts Following Kurdish Sinjar Offensive

Im irakischen Sinjar nehmen kurdische Streitkräfte Verdächtige fest, die für den IS gekämpft haben könnten.

(Foto: John Moore/Getty Images)
  • Mitte April kommen im Brüsseler Ratsgebäude hochrangige Sicherheitsexperten zusammen.
  • Es wird unter anderm um die Frage gehen, ob man nach dem Zerfall des IS Hunderte Terroristen nach Europa zurückkehren lassen kann.
  • Gesucht wird die Antwort auf ein juristisches, politisches und moralisches Problem.

Von Georg Mascolo, Berlin

Es gibt wohl niemanden, der die hochrangigen Sicherheitsexperten, die Mitte April im Brüsseler Ratsgebäude zusammenkommen werden, um ihre Aufgabe beneidet. Eine förmliche Tagesordnung gibt es nicht, aber zu den anstehenden Fragen gehört, ob man Hunderte, oft hochgefährliche Terroristen nach Europa zurückkehren lassen kann. Oder ob man stattdessen zulassen sollte, dass einige von ihnen womöglich im berüchtigten US-Gefangenenlager Guantanamo enden, wenn nicht gar am Galgen im Irak. Gesucht wird die Antwort auf ein juristisches, politisches und moralisches Problem.

Drei Stunden lang sollen die Fachleute im Auftrag ihrer Regierungen nach Lösungen suchen, was nach dem Zerfall des sogenannten Islamischen Staates (IS) mit inzwischen Hunderten europäischen Gefangenen passieren soll, mit all den Deutschen, Franzosen, Briten oder Belgiern. Der Staat des Irrsinns ist in Auflösung, aber seine Anhänger haben sich zuletzt beim Kampf um die Kalifats-Hauptstadt Raqqa dann doch lieber ergeben, als den vermeintlichen Märtyrertod zu suchen. Manche meldeten den Kurden per Whatsapp, an welcher Straßenecke sie auf ihre Festnahme warten. Jetzt sind die irakischen Haftanstalten, vor allem aber die Lager der kurdischen Milizen, voll von ihnen. Geheimdienste der Amerikaner, aber auch der deutsche BND, befragen sie dort. "Ich war nur Koch", ist eine der liebsten Ausreden.

"Ich war nur der Koch", ist eine der beliebtesten Ausreden

Die genaue Zahl der europäischen Gefangenen ist nicht bekannt, aber sie wächst von Tag zu Tag: 5000 zog es nach Schätzungen in den Dschihad, 1500 kehrten in den vergangenen Jahren zurück. Für Deutschland gilt laut Generalbundesanwalt Peter Frank folgende Rechnung: Knapp 1000 gingen zum IS, 300 kamen bereits zurück, bis zu 150 starben. Macht mindestens 600, die noch in der Region sein müssen. In Berlin wird inzwischen vom Referat 511 des Auswärtigen Amtes - eigentlich zuständig für "Nothilfe für Deutsche im Ausland" - eine streng vertrauliche Liste geführt. Jedes aus Deutschland stammende IS-Mitglied, das in der Region auftaucht oder einsitzt, wird erfasst. Nach letzter Zählung sind es bei den Kurden 96 Männer, Frauen und Kinder. Im Irak sind es weitere 15, in der Türkei um die zehn.

Inzwischen sitzen in den kurdischen Lagern auch hochrangige Kader ein, so wie der aus Bonn stammende Islamist Fared Saal, der sogar auf einer Liste des UN-Sicherheitsrates steht. Oder ein Gefolgsmann des in Celle vor Gericht stehenden Predigers Abu Walaa, zu dem schon der Weihnachtsmarktattentäter Anis Amri Kontakt hatte. Die Herkunftsorte der Islamisten lesen sich wie eine Landkarte des deutschen Dschihad: immer wieder Nordrhein-Westfalen, aber auch Koblenz, München, Hamburg und sogar das beschauliche Wolfratshausen.

Ähnlich ist es bei den Briten: Seit Februar sitzen bei den Kurden Alexanda Kotey und El Shafee Elsheikh ein, Mitglieder der berüchtigten Gruppe der "Beatles", die durch Waterboarding und Kreuzigungen auffielen. Sie werden auch für Enthauptungen verantwortlich gemacht, die sie im Internet inszenierten, darunter die Morde an den Journalisten James Foley und Steven Sotloff. Lange haben viele europäische Regierungen versucht, das Problem durch Wegsehen zu lösen. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian erklärte: "Sie sind Franzosen, aber unsere Feinde."

Irak will IS-Kämpfer selbst aburteilen

Ausgerechnet die US-Regierung zwingt die Europäer nun, sich erneut mit dem Thema zu befassen. Bei einem Treffen der Verteidigungsminister der Anti-IS-Koalition im Februar in Rom mahnte der Amerikaner James Mattis seine Kollegen, die Herkunftsländer müssten "Verantwortung" für ihre Kämpfer übernehmen: "Das hier ist ein internationales Problem, nichts zu tun, ist keine Lösung." Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen saß dabei.

Die USA befürchten, dass durch die gemeinsame Inhaftierung der IS-Kämpfer langfristig die Terrorgefahr wieder steigen könnte, in den Lagern entstehen Verbindungen, Kontakte, die später genutzt werden könnten. Die Amerikaner kennen dieses Problem, sie haben den Fehler selbst einmal gemacht: Im berüchtigten Camp Bucca im Süden des Irak wurden nach dem Sturz Saddam Husseins Islamisten, Militärs und Geheimdienstler des gestürzten Regimes gemeinsam interniert, auch der IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi saß hier ein. Eine regelrechte Talentschmiede für Terroristen entstand. "Wir haben gesehen, was passiert, wenn man eine Gruppe hochrangiger Terroristen für lange Zeit gemeinsam einsperrt", sagte ein US-Offizier in Bagdad. Hinzu kommt, dass die Kurden die Gefangenen so schnell wie möglich loswerden wollen.

Im Irak dagegen gilt ein anderer Grundsatz, sie wollen keine IS-Kämpfer in ihre Heimatländer abschieben, sondern sie selbst aburteilen - am liebsten auch gleich alle, die bei den Kurden einsitzen. Schließlich haben sie ihre Taten oft auch auf irakischem Boden begangen. Die heute 17-jährige Sächsin Linda W. kam vor einem Gericht in Bagdad vergleichsweise glimpflich davon: ein Jahr für illegale Einreise, fünf für Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Hingegen wurde die aus Mannheim stammende Deutschmarokkanerin Lamia K. zum Tode verurteilt. Selbst bei Frauen ist die Höchststrafe also nicht ausgeschlossen - was haben dann die Männer zu erwarten? Der Irak ist eines von vier Ländern, in denen zusammengenommen 90 Prozent aller weltweit vollstreckten Hinrichtungen stattfinden.

Auch die Bundesregierung wird einen Vertreter zur Brüsseler Runde entsenden

Zu einem geradezu bizarren Schauspiel kam es bereits über das Schicksal der beiden "Beatles". Die Regierung in London hat ihnen offenbar die Staatsbürgerschaft entzogen, eine Rückkehr ist damit ausgeschlossen. US-Behörden signalisierten daraufhin, man könne die beiden womöglich nach Guantanamo ausfliegen. Kaum war die Guantanamo-Variante in der Welt, signalisierte die britische Regierung, die beiden müssten vor ein ziviles US-Gericht gestellt werden, die Todesstrafe dürfe nicht verhängt werden. Andernfalls werde man den USA keine Beweise liefern - und für ein Verfahren in Guantanamo schon gar nicht. Die Frage, warum sie den "Beatles" nicht selbst den Prozess macht, beantwortete die Regierung bisher nicht. Manche in Europa argwöhnen inzwischen, dass es so nicht weitergehen kann. Der Auftrag, nun nach Lösungen zu suchen, kommt von den Innen- und Justizministern.

Auch die Bundesregierung wird einen Vertreter zu der Brüsseler Runde entsenden - wobei die Deutschen nicht im Ruf stehen, das Problem zu ignorieren. Sie vertreten die Position, dass man den Rückkehrern keinen roten Teppich ausrollen sollte, aber völkerrechtliche Verpflichtungen ernst nimmt. Hinzu kommt die Aufgabe, alles zu unternehmen, um Deutschland vor Terror durch Rückkehrer zu schützen. Denn allen in Berlin ist klar, dass es wenig populär ist, diese Leute aus dem Kriegsgebiet zurückzuholen.

Aus der theoretischen Linie ist praktische Politik geworden. Es begann mit den Kindern: Im Februar wurde ein 14 Monate alter Junge, dessen Eltern im nordirakischen Erbil in Haft sitzen, nach Deutschland ausgeflogen. Inzwischen sind mindestens zehn weitere Kinder zurück. Die deutschen Behörden bestehen vor jedem Rücktransport auf einem DNA-Test. Meist sind die Kinder klein und eher traumatisiert als ideologisiert. Aber inzwischen wissen die deutschen Sicherheitsbehörden auch von älteren Kindern, sie wurden beim IS an Waffen ausgebildet und zur nächsten Generation der Kämpfer herangezogen. Im Sportunterricht lernten sie das Zerlegen von Sturmgewehren. Bund und Länder wollen, dass vor allem diese Kinder Deradikalisierungsprogramme durchlaufen. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen hat bereits davor gewarnt, dass aus diesen sonst die nächste Generation der Dschihadisten entstehen könne.

Manche Frauen griffen zur Waffe

Auch Frauen kehren inzwischen zurück. Nach neueren Erkenntnissen griffen manche beim Entscheidungskampf um Raqqa zur Waffe. Um auch Frauen - selbst wenn man ihnen Schießen und Morden nicht nachweisen kann - abzuurteilen, betreibt der Generalbundesanwalt ein Musterverfahren. Der Bundesgerichtshof muss nun über einen Haftbefehl gegen die 30-jährige Sibel H. aus Hessen entscheiden, die gleich zwei Mal zum IS ausreiste. Die Bundesanwaltschaft argumentiert, dass sie sich dem "Staatsvolk des IS" angeschlossen habe - und damit einer terroristischen Vereinigung. Bereits seit Monaten brüten die Richter in Karlsruhe über dem Antrag.

Bei den Männern ist es oft einfacher mit der Strafverfolgung. Und doch sollen so wenige wie möglich zurückkommen können, denn nach einer eventuellen Haftstrafe wären sie wieder auf der Straße. Dschihad-Rückkehrer, die es nicht erst seit den Zeiten des IS gibt, blieben oft unauffällig. Andere, wie die Sauerland-Gruppe, planten große Anschläge. Im Koalitionsvertrag findet sich deshalb die Absicht, jenen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, die neben der deutschen noch eine zweite Staatsangehörigkeit haben. Ein entsprechendes Gesetz soll laut Bundesinnenministerium "rasch" verabschiedet werden. Aber Bund und Länder scheinen auch andere Möglichkeiten auszuschöpfen: etwa die Aberkennung von Aufenthaltstiteln oder einem einmal gewährten Asylstatus. Manches werden die Gerichte klären müssen: So soll etwa der gebürtige Bosnier Mohammed H. nicht nach Deutschland zurückkehren dürfen, obwohl er mit einer Deutschen Kinder hat. Sie gehört zu jenen Frauen, die unlängst nach Nordrhein-Westfalen zurückkehrten, hochschwanger.

Die Suche nach einer europäischen Lösung wird weitergehen, die Bundesregierung scheint eine Linie gefunden zu haben: kein Guantanamo, kein Galgen. Aber Härte bis an die Grenze des Vertretbaren.

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