Irrwitziges Handbuch der US-Geheimdienste:Die Zahlen sind explodiert

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Irrwitziger hätte es auch Kafka sich nicht ausdenken können. Im Übrigen gibt es ein Tool namens "categorial watchlisting", das es erlaubt, ganze Gruppen von Menschen vorübergehend auf die Liste zu setzen. Erstaunlich ist auch, was für die US-Behörden alles unter "Terrorismus" fällt: nicht nur die Beschädigung von Staatseigentum, sondern auch die von Computern von Banken sowie Handlungen, die Privateigentum "gefährden" oder die Regierung einschüchtern sollen. Kritische Meinungsäußerungen oder die Ausübung der Religion reichen als Kriterien nicht aus, doch das gilt nur für Amerikaner. Und wer terroristische Akte gutheißt oder zu ihnen aufruft, kommt in jedem Fall auf die Liste. Posts auf Facebook oder Tweets genügen.

Wie mit all diesen Personen zu verfahren ist, wenn sie nichts ahnend am Flughafen oder an einem Grenzübergang auftauchen, erklärt das Handbuch en detail. Die Beamten des Heimatschutzministeriums, die das Gepäck kontrollieren, sollen von ihnen so viele Informationen sammeln wie irgend möglich. Nicht nur Fingerabdrücke, Pass und Reisedaten, sondern Mitgliedsausweise, Strafzettel, Arztrezepte, Zahlungsbelege, Kontoauszüge und akademisches Material, sogar Informationen zu Haustieren. Auch "pocket litter", der zerriebene Kram, den man in seinen Taschen herumträgt, interessiert die Überwacher, außerdem alle Einzelheiten zu Taucherausrüstungen und Schmuck. Am wichtigsten für das von den Beamten mit Informationen zu füllende "Begegnungspaket" sind natürlich Daten von Handys, iPads, Kameras und anderen Geräten.

Verselbständigter Überwachungsaparat

Es gibt die Terroristenlisten schon länger. Am 11. September umfassten sie 16 Personen. Doch bald danach explodierten die Zahlen. Allein 2013, das musste die Regierung kürzlich offenlegen, wurden 468 749 Personen dafür "nominiert". Nur 4915 dieser Nominierungen wurden abgelehnt. Kritisiert wurden die Listen immer wieder, meist von Bürgerrechtsaktivisten, aber auch von Obama selbst, der von "Systemversagen" sprach, als 2009 der "Schuh-Bomber" unbehelligt ein Flugzeug in die USA besteigen konnte. Doch die Lösung bestand nicht darin, den Wust aus Daten Unschuldiger auszusortieren, sondern noch mehr Namen zu sammeln.

Seit Donald Rumsfelds legendären "Known Unknowns" belegt kaum etwas so anschaulich, wie sehr sich der amerikanische Überwachungsapparat verselbständigt hat und wie weit er von Realität und Common Sense entfernt ist. Allein die Sprache spricht Bände: Von den Gepäckkontrolleuren ist als der "screener community" die Rede, Hinweise auf drohende Attentate heißen "threat streams". Namen möglicher Terroristen werden durch eine arkane interne Hierarchie gereicht, die sich aus "originators", "nominators" und "aggregators" zusammensetzt.

Geheimes zweites Justizsystem

Keine politische Analyse könnte klarer zeigen, wie irre Amerika am Trauma von 9/11 geworden ist. Tragisch ist das Schicksal der vielen Tausend unschuldiger Menschen, deren Freizügigkeit eingeschränkt ist, und die sich bei jeder Reise den pedantisch dargelegten Schikanen aussetzen müssen. Tragisch ist aber auch, wie eine ganze Bürokratenkaste der düsteren Utopie verfallen ist, politisch motivierte Verbrechen könnten sich einfach abstellen lassen, sofern nur ausreichend raffinierte Verfahren dafür erfunden würden.

Die Autoren des Handbuchs versuchen fast verzweifelt, die Verfolgung noch nicht begangener Verbrechen mit rechtsstaatlichen Prinzipien in Einklang zu bringen. Doch mit den tausenderlei Fußnoten, Widersprüchen und Ausnahmen belegen sie selbst die Unmöglichkeit dessen. Wie die NSA-Dokumente zeigt das Handbuch vor allem eines: Unter der Flagge der Terrorismusabwehr wuchert ein geheimes zweites Justizsystem, das ohne rechtsstaatliche Kontrolle arbeitet und sich für seine wilden Zukunftsprognosen auf all das stützt, was seit der Aufklärung aus der Rechtsprechung verbannt ist: Spekulation, Hörensagen, Verdacht. "Konkrete Fakten sind nicht nötig", heißt es. Selbst wer von einem Gericht vom Verdacht terroristischer Aktivitäten freigesprochen wird, bleibt als potenzieller Terrorist weiter auf der Liste.

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