Irrwitziges Handbuch der US-Geheimdienste:Jeder könnte ein Terrorverdächtiger sein

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Jetzt veröffentlicht - die amerikanische Terrorbekämpfungsfibel. Repro: SZ (Foto: N/A)

Spekulation, Hörensagen, Verdacht - all das reicht, um in das Visier der US-Geheimdienste zu geraten. Konkrete Fakten seien nicht nötig, heißt es in deren internem Handbuch, das nun aufgetaucht ist. Es zeigt, wie irre Amerika am Trauma von 9/11 geworden ist.

Von Jörg Häntzschel

Würde Kafkas Josef K. heute in die USA fliegen, er wäre mindestens Selectee, wenn er nicht sogar ein Upgrade bekäme. Nein, es geht hier nicht um Champagner vor dem Abflug und Sessel, die sich in Betten verwandeln lassen, den Traum des Economy-Reisenden. Im Neusprech des amerikanischen "National Counterterrorism Center" bedeutet derart auserwählt zu sein nichts anderes als die Aufnahme auf eine der "Watchlists" für des Terrorismus verdächtigte Personen - mit allen Konsequenzen.

In harmloseren Fällen werden sie bei der Einreise in die USA verhört und am Flughafen minutiös durchsucht; in schlimmeren Fällen können sie, wenn sie in den USA leben, nie wieder ein Flugzeug besteigen, und wenn nicht, nie wieder in die USA fliegen. Jede Polizeikontrolle mündet in eine langwierige Prozedur. Und für Amerikaner sinken die Chancen gewaltig, eine Arbeit zu finden oder einen Kredit aufzunehmen.

Schockierendes Zeugnis

Diese Listen - die No-Fly-List ist die bekannteste - sind seit Langem umstritten: Wegen ihrer drakonischen Konsequenzen und wegen der vielen irrtümlich dort erfassten Personen, darunter Mike Hicks, der mit zwei Jahren darauf geriet, und der ehemalige Senator Ted Kennedy. Doch vor allem, weil die Kriterien, die über die Aufnahme von Personen entscheiden, stets als Staatsgeheimnis behandelt wurden.

Nun hat das Online-Magazin The Intercept gegen den Einspruch des US-Justizministers Eric Holder eine geleakte Version der "Watchlist Guidance" veröffentlicht. Das interne Handbuch erklärt, welche Personen auf die Liste zu setzen und welche Verfahren dabei anzuwenden sind. Die 166 Seiten sind das schockierende Zeugnis eines Staatsapparats, der elementare Rechtsprinzipien ungerührt und mutwillig missachtet; der die eigene Paranoia mit den Mitteln der Bürokratie zu rationalisieren versucht und sich dabei immer tiefer in die Angst verstrickt.

Für fast jede Regel eine Ausnahme

Es braucht nicht viel, um sich als "KST", als "known or suspected terrorist" zu qualifizieren. Zumal - und das ist das Entscheidende - in den Listen nicht nur diejenigen aufgeführt sind, die Terrorakte begangen haben, sondern auch die, die es mutmaßlich irgendwann tun könnten. Die Listen beruhen also auf doppelter Spekulation: KST ist schon, wer verdächtigt wird, verdächtig zu sein. Und das ist erst der Anfang. Auch die Familienmitglieder dieser als "Terroristen" geführten Personen landen auf der Liste - und Leute, die ihrerseits im Verdacht stehen, mit ihnen zu tun zu haben.

Doch das Regularium, das für fast jede Regel eine Ausnahme bereithält, erlaubt es auch, Personen, für die sich nicht genug "schädliche Informationen" finden lassen, wegen eines "möglichen Nexus" zum Terrorismus als Verdächtige zu führen. Man kann aufgrund seiner Nähe zu einer angeblichen Terrorgruppe auf die Liste geraten, selbst wenn die amerikanische Regierung diese nicht für eine Terrororganisation hält. Und man kann als "Repräsentant" einer Terrororganisation betrachtet werden, auch wenn "weder Mitgliedschaft noch Nähe zu der Organisation" bestehen.

Irrwitziger hätte es auch Kafka sich nicht ausdenken können. Im Übrigen gibt es ein Tool namens "categorial watchlisting", das es erlaubt, ganze Gruppen von Menschen vorübergehend auf die Liste zu setzen. Erstaunlich ist auch, was für die US-Behörden alles unter "Terrorismus" fällt: nicht nur die Beschädigung von Staatseigentum, sondern auch die von Computern von Banken sowie Handlungen, die Privateigentum "gefährden" oder die Regierung einschüchtern sollen. Kritische Meinungsäußerungen oder die Ausübung der Religion reichen als Kriterien nicht aus, doch das gilt nur für Amerikaner. Und wer terroristische Akte gutheißt oder zu ihnen aufruft, kommt in jedem Fall auf die Liste. Posts auf Facebook oder Tweets genügen.

Wie mit all diesen Personen zu verfahren ist, wenn sie nichts ahnend am Flughafen oder an einem Grenzübergang auftauchen, erklärt das Handbuch en detail. Die Beamten des Heimatschutzministeriums, die das Gepäck kontrollieren, sollen von ihnen so viele Informationen sammeln wie irgend möglich. Nicht nur Fingerabdrücke, Pass und Reisedaten, sondern Mitgliedsausweise, Strafzettel, Arztrezepte, Zahlungsbelege, Kontoauszüge und akademisches Material, sogar Informationen zu Haustieren. Auch "pocket litter", der zerriebene Kram, den man in seinen Taschen herumträgt, interessiert die Überwacher, außerdem alle Einzelheiten zu Taucherausrüstungen und Schmuck. Am wichtigsten für das von den Beamten mit Informationen zu füllende "Begegnungspaket" sind natürlich Daten von Handys, iPads, Kameras und anderen Geräten.

Verselbständigter Überwachungsaparat

Es gibt die Terroristenlisten schon länger. Am 11. September umfassten sie 16 Personen. Doch bald danach explodierten die Zahlen. Allein 2013, das musste die Regierung kürzlich offenlegen, wurden 468 749 Personen dafür "nominiert". Nur 4915 dieser Nominierungen wurden abgelehnt. Kritisiert wurden die Listen immer wieder, meist von Bürgerrechtsaktivisten, aber auch von Obama selbst, der von "Systemversagen" sprach, als 2009 der "Schuh-Bomber" unbehelligt ein Flugzeug in die USA besteigen konnte. Doch die Lösung bestand nicht darin, den Wust aus Daten Unschuldiger auszusortieren, sondern noch mehr Namen zu sammeln.

Seit Donald Rumsfelds legendären "Known Unknowns" belegt kaum etwas so anschaulich, wie sehr sich der amerikanische Überwachungsapparat verselbständigt hat und wie weit er von Realität und Common Sense entfernt ist. Allein die Sprache spricht Bände: Von den Gepäckkontrolleuren ist als der "screener community" die Rede, Hinweise auf drohende Attentate heißen "threat streams". Namen möglicher Terroristen werden durch eine arkane interne Hierarchie gereicht, die sich aus "originators", "nominators" und "aggregators" zusammensetzt.

Geheimes zweites Justizsystem

Keine politische Analyse könnte klarer zeigen, wie irre Amerika am Trauma von 9/11 geworden ist. Tragisch ist das Schicksal der vielen Tausend unschuldiger Menschen, deren Freizügigkeit eingeschränkt ist, und die sich bei jeder Reise den pedantisch dargelegten Schikanen aussetzen müssen. Tragisch ist aber auch, wie eine ganze Bürokratenkaste der düsteren Utopie verfallen ist, politisch motivierte Verbrechen könnten sich einfach abstellen lassen, sofern nur ausreichend raffinierte Verfahren dafür erfunden würden.

Die Autoren des Handbuchs versuchen fast verzweifelt, die Verfolgung noch nicht begangener Verbrechen mit rechtsstaatlichen Prinzipien in Einklang zu bringen. Doch mit den tausenderlei Fußnoten, Widersprüchen und Ausnahmen belegen sie selbst die Unmöglichkeit dessen. Wie die NSA-Dokumente zeigt das Handbuch vor allem eines: Unter der Flagge der Terrorismusabwehr wuchert ein geheimes zweites Justizsystem, das ohne rechtsstaatliche Kontrolle arbeitet und sich für seine wilden Zukunftsprognosen auf all das stützt, was seit der Aufklärung aus der Rechtsprechung verbannt ist: Spekulation, Hörensagen, Verdacht. "Konkrete Fakten sind nicht nötig", heißt es. Selbst wer von einem Gericht vom Verdacht terroristischer Aktivitäten freigesprochen wird, bleibt als potenzieller Terrorist weiter auf der Liste.

© SZ vom 25.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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