Die Islamische Republik hatte schon mal bessere Quoten. Nur ein Viertel der Iranerinnen und Iraner, so gab ein Umfrageinstitut bekannt, hätten zugeschaut, als die sechs Männer darüber redeten, was sie so vorhaben, sollten sie gewinnen. Jedenfalls war es bei der ersten TV-Debatte so, der ersten von insgesamt fünf. Knapp 27 Prozent gaben an, sie hätten eingeschaltet. 73 Prozent stellten mit ihrer Zeit etwas anderes an. Wer an diesem Freitag als neuer Präsident gewählt wird? Interessierte sie nicht sonderlich.
Dabei sah es nach Demokratie aus an diesen Debatten-Abenden. Die Kandidaten kamen in ein Teheraner TV-Studio, das Licht ging an, und sie redeten, redeten, redeten. Bis zu vier Stunden lang. Über Außenpolitik, die Wirtschaft, über mehr Effizienz im Staat. Zwischendurch, in einer Pause, liefen Berater zu ihnen, flüsterten ihnen etwas zu. Ein bisschen war es wie bei einem Boxkampf, einem rhetorischen.
Sie durften reden, die sechs im Fernsehstudio. Sie durften sich streiten, und sie taten es. Auch wenn der Oberste Führer zu Beginn des Wahlkampfs um sanftes Auftreten gebeten hatte. Auch wenn der Geheimdienstminister die Kandidaten und deren Anhängerinnen und Anhänger kurz zuvor gewarnt hatte, man habe genau im Blick, wer „subversive“ Theorien verbreite, und man werde dagegen vorgehen.
Anders als beim letzten Mal darf einer antreten, der sich Reformer nennt
Wer nicht reden durfte? Zum Beispiel die, die es trotzdem taten. Auch wenn sie umgeben sind von den Mauern eines Hochsicherheitsgefängnisses. Eine Stunde nachdem die letzte Debatte zu Ende gegangen war, begann anderswo in der Hauptstadt, im Evin-Gefängnis, ein Protest, so meldet es das Exilmedium IranWire. Nicht nur im Frauentrakt, aber dort habe es angefangen. Aus ihren Zellen sollen sie die Slogans der Proteste gerufen haben: „Jin, Jiyan, Azadî“ – Frau, Leben, Freiheit. Und: „Tod dem Diktator!“
Eine Viertelstunde lang soll er gedauert haben, der Moment der Freiheit mitten in der Unfreiheit. Im Evin-Gefängnis sitzen viele politische Gefangene ein, unter anderem Narges Mohammadi, die vergangenes Jahr den Friedensnobelpreis bekam. Von ihrem eigenen Land bekam sie im Januar eine weitere Haftstrafe. Sie hat ihr halbes Leben in Gefangenschaft verbracht.
Es ist die erste iranische Präsidentschaftswahl seit den Protesten. Offiziell spielen die zwar keine Rolle, und doch prägen sie den Wahlkampf. Da ist die Apathie, mit der weite Teile des Landes ihn verfolgen. Da ist zum Beispiel auch das Versprechen aller sechs Kandidaten, die Verhüllungspflicht nicht mehr mit Gewalt durchzusetzen. Rhetorisch hat sich etwas getan, in der Praxis ist die Sittenpolizei weiterhin auf den Straßen. Mal ermahnen die Beamten eine Frau, sich zu verschleiern, manchmal zerren sie sie auch in einen ihrer Vans.
Anders als bei der vergangenen Wahl darf ein Reformer antreten. Der Wächterrat, jenes Gremium, das dem Obersten Führer gehorcht, hatte das Feld der Kandidaten zwar von 80 auf sechs ausgedünnt. Weder der frühere Präsident Mahmud Ahmadinedschad durfte antreten noch Ali Laridschani, der frühere Parlamentssprecher. Aber einer, der sich Reformer nennt, durfte.
Massud Peseschkian, ein Abgeordneter, er war mal Gesundheitsminister. Ali Chamenei, der Oberste Führer, wünschte sich offenbar eine höhere Wahlbeteiligung. Bei 49 Prozent lag sie bei der letzten Präsidentschaftswahl im Jahr 2021, vor den Protesten also, ein Rekordtief. An den Parlamentswahlen im März nahmen noch weniger Menschen teil. Nach allem, was in den vergangenen Jahren passiert ist, sollen die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, sie dürften mitreden. Und sie hätten eine Wahl.
Zumindest kamen sie zu Peseschkians Auftritten, und sie sprachen dort offen, jedenfalls viel offener, als sie es sich sonst trauen würden. Allerdings steckt Peseschkian in einem Dilemma: Er will die Iranerinnen und Iraner überzeugen, es könne sich im Land etwas ändern – auch ohne Revolution. Gleichzeitig braucht er auch die Stimmen derer, die ohnehin wählen gehen, also der wenigen, die noch ans System glauben.
Eine Chance hat er wohl nur, wenn die Wahlbeteiligung diesmal deutlich höher ausfällt. In den Umfragen, so man ihnen trauen kann, liegt er knapp vor zwei anderen, zwei konservativen Kandidaten. Ist Peseschkian der Reformer, sind die beiden der Ideologe und der Technokrat. Da ist Said Dschalili, ideologisch wohl der Favorit des Obersten Führers. Selbst innerhalb des Regimes aber ist Dschalili vielen zu radikal, er hat keine Regierungserfahrung. Und da ist Mohammad Bagher Ghalibaf, der Sprecher des Parlaments und das Gegenteil von Dschalili. Ghalibaf war früher General bei den Revolutionsgarden und Bürgermeister von Teheran, er ist kein Ideologe, eher ein Machtmensch. Einer, der den wachsenden Einfluss der Garden im Staat verkörpert.

Iran:Oberster Hardliner des Landes
Ayatollah Ali Chamenei ist bekannt für seine Gnadenlosigkeit und ideologische Härte. Nach dem Tod von Präsident Ebrahim Raisi kommt es mehr denn je auf den kranken und alten geistlichen Führer der Islamischen Republik an.
Die Nobelpreisträgerin ruft dazu auf, nicht wählen zu gehen
Ghalibaf könnte der Mann sein, dem die Führung um Ali Chamenei zutraut, den Apparat zu führen, gerade jetzt, in außenpolitisch unsicheren Zeiten. Und nach den Protesten vor anderthalb Jahren. Einen Apparat also, der nun ein Volk wählen lässt, dessen Meinung er auf den Straßen nicht hören wollte.
Narges Mohammadi rief aus ihrer Zelle dazu auf, nicht wählen zu gehen. Es seien die Wahlen einer „unterdrückerischen und illegitimen Regierung“. Eines Regimes, dessen Justiz kürzlich einen Mann zu sechs Jahren Haft verurteilte. Sein Verbrechen? Er hatte öffentlich um das Leben seines Sohnes gebeten. Der junge Mann, Mohammad Mehdi Karami, gehörte zu den ersten Demonstranten, die das Regime hinrichten ließ.
Die einen also, die Präsidentschaftskandidaten, streiten sich live im Fernsehen. Draußen im Land währenddessen zahlen sie, wenn sie ihre Meinung sagen, einen Preis. Nicht wählen zu gehen, das ist die letzte Form des Protests, die bestimmt nichts kostet. So gesehen wird der Freitag in der Islamischen Republik vielleicht ein Tag des Protests.