Süddeutsche Zeitung

Flugzeugabsturz in Iran:Der Westen glaubt an einen fatalen Fehler

  • Sowohl Washington wie London und Ottawa gehen davon aus, dass Iran Flug PS752 mit Flugabwehrraketen beschoss und vom Himmel holte.
  • Kanadas Ministerpräsident Trudeau sagt, man habe Informationen aus vielfachen Quellen, "die zeigen, dass das Flugzeug von einer iranischen Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde...Das mag wohl unabsichtlich geschehen sein."
  • Der New York Times zufolge hatte Iran offenbar aus Sorge vor einem US-Gegenschlag auf dem Flughafen von Teheran die dortige Flugabwehr verstärkt.

Von Florian Hassel, Warschau

Wer später die Geschichte der Krise zwischen den USA und Iran im Januar 2020 schreibt, kommt möglicherweise zu folgendem Schluss: Der große Krieg ist vermieden worden - aber 176 Menschen wurden im Konflikt zwischen Washington und Teheran zu dem, was Militärvertreter "Kollateralschaden" nennen. Sie mussten womöglich sterben, weil Irans Flugabwehr Passagierflug PS752 der Fluglinie Ukraine International Airways für ein US-Militärflugzeug oder US-Marschflugkörper im Anmarsch auf den Teheraner Flughafen hielt - und das Flugzeug mit einer Rakete aus russischer Produktion abschoss.

Sowohl Washington wie London und Ottawa gehen davon aus, dass Iran Flug PS752 mit Flugabwehrraketen beschoss und vom Himmel holte. Flug PS752 stürzte wenige Stunden ab, nachdem der Iran seinerseits mehr als 20 Raketen auf US-Militärbasen im Irak abgefeuert hatte. Der New York Times zufolge hatte Iran offenbar aus Sorge vor einem US-Gegenschlag auf dem Flughafen von Teheran die dortige Flugabwehr verstärkt.

Iran hält an seiner Version fest: Das Flugzeug sei durch einen Triebwerkschaden abgestürzt

Ein US-Geheimdienstler sagte, Teheran habe zwei Flugabwehrraketen vom Typ SA-15 auf das Passagierflugzeug abgeschossen. Der Start sei von US-Spionagesatelliten aufgezeichnet worden, US-Geheimdienste hätten iranische Funksprüche aufgezeichnet, die den irrtümlichen Abschuss bestätigten. Ein Video auf der NYT-Website zeigt angeblich den Moment, als das Passagierflugzeug von der Rakete getroffen wurde. Präsident Donald Trump sagte, der Abschuss sei offenbar ein "Fehler" gewesen. Kanadas Ministerpräsident Justin Trudeau bestätigte: "Wir haben Informationen aus vielfachen Quellen, sowohl von unseren Alliierten wie von unseren eigenen Diensten, die zeigen, dass das Flugzeug von einer iranischen Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde ... Das mag wohl unabsichtlich geschehen sein."

Dem kanadischen Regierungschef zufolge waren unter den 167 toten Passagieren 63 kanadische Staatsbürger. 71 weitere Passagiere hätten mit Umstiegen in Kiew ebenfalls nach Kanada fliegen wollen. Zur iranischen Diaspora in Kanada zählen mehr als 200 000 Menschen. Kanada bestehe darauf, unverzüglich Zugang zur Untersuchung über das Unglück zu bekommen, die von der iranischen Luftfahrtbehörde CAOI geführt wird.

Auch der britische Ministerpräsident Boris Johnson sagte, London lägen "sehr besorgniserregende Berichte" über den Absturz vor. Bei diesem kamen auch drei Engländer ums Leben. Der Guardian zitierte Geheimdienstquellen, denen zufolge elektronische Spuren der Starts der Flugabwehrraketen registriert worden seien. "Es sieht nach einem tragischen Unglück aus", sagte eine englische Quelle. Weder Amerikaner noch Briten oder Kanadier legten zunächst Belege vor.

Irans Luftfahrtbehörde CAOI beharrte in einem vorläufigen Bericht darauf, die ukrainische Boeing 737-800 sei nach einem Triebwerksbrand abgestürzt. Allerdings ist eine mit zwei Triebwerken ausgerüstete Boeing auch mit nur einem Triebwerk flug- und landefähig. Die Ukraine ist bereits mit Spezialisten vor Ort. Bereits in der Nacht zum Donnerstag landete in Teheran ein Militärflugzeug mit 45 Fachleuten zwölf ukrainischer Behörden und der UIA. Später berieten die Ukrainer mit ihren iranischen Kollegen. Präsident Selenskij sagte, er erwarte, dass alle ukrainischen Spezialisten zugelassen würden, "insbesondere bei der Entzifferung der Aufzeichnungen der Black Boxes", sagte Selenskij.

Black Boxes sind Flugschreiber zur Aufzeichnung der Flugdaten und Cockpitrekorder, die alle Gespräche zwischen den Piloten und ihren Funkverkehr aufzeichnen. Üblicherweise werden diese zur Auswertung an den Flugzeughersteller übergeben - in diesem Fall an Boeing. Dies aber schloss CAOI-Chef Ali Abedzadeh aus. "Wir werden die Black Box nicht dem Hersteller und den Amerikanern übergeben." Abedzadeh zufolge könnten die Geräte etwa an Frankreich oder Kanada übergeben werden. Alexej Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, sagte dem Infodienst censor.net, auch die Ukraine werde als erste Version den möglichen Abschuss des Flugzeuges mit einer russischen Rakete untersuchen. "Unsere Kommission... ist entschlossen, eine Suche nach Fragmenten des russischen Raketenkomplexes Tor durchzuführen", sagte Danilow. Russland verkaufte Iran ab November 2006 insgesamt 29 jeweils mit vier Raketen bestückte Tor-M1-Boden-Luft-Raketensysteme. Geführt wird die Untersuchung von der iranischen zivilen Luftfahrtbehörde (CAOI). Deren Chef Ali Abedzadeh zufolge lud Iran bereits am Mittwoch neben der Ukraine auch Schweden, Kanada und die USA ein, an der Untersuchung teilzunehmen.

Dies entspricht Anhang 13 zur Luftfahrtkonvention von Chicago von 1944: Danach leitet die zuständige Behörde des Landes, in dem sich das Unglück ereignet, die Ermittlung. Auch das Land, in dem das abgestürzte Flugzeug registriert war, das Herstellerland und alle Länder mit toten Staatsbürgern unter den Opfern werden zu einer solchen Untersuchung eingeladen, die bis zu einem Jahr dauert. Die UN-Luftfahrtbehörde ICAO bestätigte, mit allen betroffenen Staaten im Kontakt zu sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4751312
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 10.01.2020/cck
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.