Süddeutsche Zeitung

Irak:Überfällige Erneuerung

Bagdad muss die Forderung der zahlreichen Demonstranten nach guter Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit erfüllen. Das geht nicht, wenn der Staat vor Partikularinteressen kapituliert.

Von Paul-Anton Krüger

Premier Adil Abd al-Mahdis Rücktritt ist ein Etappensieg für die Demonstranten im Irak. Sie werden sich aber nicht zufriedengeben damit. Sie fordern die grundlegende Erneuerung der politischen Ordnung - und die ist auch überfällig. Die bestehende Ordnung prägten die USA nach dem Sturz des sunnitischen Diktators Saddam Hussein; sie war angelegt, einen Ausgleich zwischen den konfessionellen und ethnischen Gruppen des Vielvölkerstaates an Euphrat und Tigris zu ermöglichen. Schiiten, die Mehrheit der heute 40 Millionen Iraker, und Kurden hatten jahrzehntelang unter der brutalen Unterdrückung Saddams gelitten.

Diese Ordnung legte aber zugleich das Fundament für eine konfessionell organisierte Kleptokratie: Staatsämter werden nach Religions- und Volksgruppen verteilt, Minister fühlen sich der Versorgung ihrer Klientel verpflichtet, nicht dem übergeordneten Wohl des Volkes. Dieses System ist lange am Ende: Sichtbarstes Zeichen war der Kollaps der irakischen Armee im Angesicht der Terrormiliz Islamischer Staat, zu deren Aufstieg die Diskriminierung der Sunniten unter Premier Nuri al-Maliki beigetragen hatte. Der Irak ist heute wie damals ein scheiternder Staat. Iraker sind die zweitgrößte Gruppe unter den Flüchtlingen, die zu uns kommen.

Derzeit protestieren vor allem Schiiten im verarmten Südirak und in Bagdad gegen die von Schiiten dominierte Zentralregierung - und gegen die Präsenz Irans, die selbstausgerufene Schutzmacht der Schiiten. Die Demonstranten schwenken irakische Flaggen. Nationalismus verdrängt die konfessionellen Identitäten, die Stämme treten als Machtfaktor hervor: Sie können Bewaffnete mobilisieren, wie nach dem Massaker durch Truppen des Innenministeriums in Nasirijah. Sie stellen sich gegen die von Iran kontrollierten Milizen - ein Szenario für einen Bürgerkrieg entlang neuer Fronten, der ausländische Interventionen nach sich ziehen würde und ein Wiedererstarken der Dschihadisten.

Iraks Eliten haben sträflich die Gelegenheit verpasst, die Einheit im Kampf gegen den IS zu nutzen, um einen Staat für alle Iraker zu schaffen. Der Westen hat dem zugesehen, Iran ergriff die Chance, seinen Einfluss auszuweiten. Nun verlangen die Menschen zu Recht ihren Teil an den Öl-Einnahmen. Irak exportiert 3,5 Millionen Barrel und müsste seinen Bürgern die Versorgung mit Strom und Wasser gewährleisten können. Doch das Geld versickert.

Wenn das Parlament das Land vor dem Abgrund retten will, muss es eine neutrale, unbelastete Regierung aus Technokraten einsetzen. Sie müsste föderale Elemente in der Staatsordnung stärken, die Wahlgesetze reformieren und vor allem den Sicherheitsapparat. Parteien sind im Irak Organisationen mit eigenen Medien, Banken und Milizen, darauf ausgelegt, ihren Anhängern Pfründe zu sichern. Die Unterhöhlung des staatlichen Gewaltmonopols ist Grundlage dieses Geschäftsmodells.

Die berechtigte Forderung der Demonstranten nach guter Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit kann der Staat nicht erfüllen, wenn er vor Partikularinteressen kapituliert. Diese wiederum sind so groß, dass kaum zu erwarten ist, dass Iran oder andere Akteure davon abrücken, zumal Teheran die Proteste im Irak, in Libanon und im eigenen Land als Verschwörung seiner Feinde betrachtet, um Irans Zuwachs an Macht in der Region zurückzudrehen. Düstere Aussichten, aber das schreckt die Demonstranten ebenso wenig wie die mehr als 400 Toten in ihren Reihen.

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SZ vom 02.12.2019
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