Wenn Reham Yacoub sprach, machten die Männer von Basra um sie herum Platz. Manche zückten das Smartphone, andere hörten zu und nickten. Reham Yacoubs Stimme war laut, ihre Wut klar. "Niemand repräsentiert uns, niemand lebt das Leben, das wir leben müssen. Niemand steht für uns ein", sagte sie in die Kamera. Seit 2018 setzte sich die Ärztin und Fitnesstrainerin für bessere Lebensbedingungen in der südirakischen Stadt ein. In jenem Sommer mussten Zehntausende ins Krankenhaus, weil aus dem Wasserhahn nur salziges Trinkwasser sprudelte - ausgerechnet hier, im ölreichen Basra. Die Menschen gaben der korrupten Zentralregierung und dem iranischen Einfluss im Land die Schuld an den schlechten Lebensbedingungen, der Korruption, der Misswirtschaft. Seit 2018 hat sich wenig getan, also hatte Reham Yacoub weitergemacht. Ihre Stimme mobilisierte Hunderte Frauen.
Wütende Demonstranten setzten das Parlamentsbüro in Brand und stürmten Sitze irannaher Parteien
Vergangene Woche töteten vorbeifahrende Motorradfahrer sie in ihrem Auto. Auf ihrer Beerdigung weinten die Frauen von Basra um Reham Yacoub. Auf ihrem Sarg breiteten Menschen die irakische Flagge aus. Sie symbolisiert ihren Wunsch nach einem neuen Irak, in dem Partei- und Religionsgrenzen unwichtig sind.
Reham Yacoub ist nur das jüngste Opfer einer Mordserie an Aktivisten und Regierungskritikern im Irak. Fünf Tage vor ihrer Ermordung wurde Tahsin al-Shahmani, ein bekannter Aktivist und dreifacher Familienvater, in seinem Internetgeschäft in Basra mit 20 Kugeln getötet. Seitdem sind die Menschen der Stadt auf den Straßen. Vergangene Woche setzten sie das Parlamentsbüro in Brand und forderten den Rücktritt des Gouverneurs Asaad al-Eidani. Iraks Premierminister Mustafa al-Kadhimi versprach, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, entließ den Polizeichef von Basra und besuchte die Familie der getöteten Reham Yacoub. Doch da griff die Wut bereits auf andere Städte über. Im benachbarten Nasiriya setzten Demonstranten Büros der irannahen Daawa-Partei in Brand sowie Sitze schiitischer Milizen. Die Demonstranten machen sie verantwortlich für die jüngste Mordserie, die Ende Juli auch den bekannten Terrorexperten Hisham al-Hashemi in Bagdad das Leben gekostet hat.
Der Menschenrechtsaktivist Ali al-Mikdam ist einer der wenigen Iraker, der über die Mordserie in seinem Heimatland sprechen kann. Nachdem er mehrmals bedroht wurde, floh der 21-Jährige vor Kurzem ins Exil in die Türkei, wie er am Telefon erzählt. "Alles deutet darauf hin, dass die Anschläge von der pro-iranischen Miliz Kata'ib Hisbollah verübt worden sind. Sie verfolgen immer dieselbe Strategie", sagt al- Mikdam und erzählt von Hetz- und Verleumdungskampagnen, die irantreue Milizen und Medien gezielt steuern.
Reham Yacoub geriet 2018 ins Fadenkreuz der iranischen Nachrichtenagentur Mehr News Agency, als sie sich im US-Konsulat in Basra mit dem Konsul ablichten ließ. In dem Artikel wird ihr vorgeworfen, Frauen für einen Aufstand zu trainieren. Vor wenigen Tagen kam der Parlamentsabgeordnete Kadhim al-Sayadi live im irakischen Fernsehen auf dieses Bild zu sprechen. Reham Yacoub sei keine Aktivistin, sondern eine Kollaborateurin, sagt er dem Fernsehsender Ahad TV. Es gebe keinen vertretbaren Grund, einen US-Diplomaten zu treffen, sagte er. "Damit entschuldigt er den Mord an Reham", sagt Ali al-Mikdam. "Wer sich öffentlich gegen den iranischen Einfluss ausspricht, der gilt als Feind, als Verräter, als Zionist, als Amerikaner." Die jungen Menschen hätten dieses Spiel mittlerweile durchschaut, glaubt er. Längst begehren schiitische Muslime von Bagdad bis Basra gegen Iran auf, das sich als ihre Schutzmacht inszeniert. Das Proporzsystem, das die Macht unter Schiiten, Sunniten und Kurden aufteilt, sehen sie als Hauptursache für die weit verbreitete Korruption.
Als das Hauptquartier einer Miliz geräumt wurde, waren die Verhafteten bald wieder frei
"Ich persönlich mag die Frage überhaupt nicht, ob ich Sunnit oder Schiit bin", sagt al-Mikdam. "Die jungen Iraker sehen sich in erster Linie als Iraker." Während der im Irak als Oktoberrevolution bezeichneten Massenproteste Ende vergangenen Jahres schlief der heute 21-Jährige in einem Zelt auf dem Bagdader Tahrirplatz. Als die irakische Regierung und von Iran gesteuerte Milizen mit roher Gewalt auf die Proteste reagierten, habe das die Menschen noch weiter zusammengeschweißt, erzählt al-Mikdam.
Damals wurden mehr als 500 Iraker getötet. Die jüngste Anschlagsserie bringt nun auch den irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi in Bedrängnis, der erst seit Mai im Amt ist und ein enger Freund des ermordeten Terrorexperten Hashemi war. Zwar weckte al-Kadhimi jüngst Hoffnung bei den Demonstranten der Oktoberrevolution, als er das Hauptquartier der Miliz Kata'ib Hisbollah in al-Dora im Süden Bagdads von einer Anti-Terror-Einheit stürmen ließ. Doch als Milizionäre daraufhin schwer bewaffnet in der streng bewachten Grünen Zone des Bagdader Regierungsviertels aufmarschierten, kamen die Festgenommenen wieder frei. Al-Mikdam hält den Schritt zwar für "mutig", findet aber, der Premier habe zu schnell nachgegeben. "Die Menschen haben nun gesehen, dass al-Kadhimi nicht derjenige ist, der in diesem Land die Entscheidungen trifft", sagt er. Im Interview mit der emiratischen Tageszeitung The National verspricht der Premier nun lückenlose Aufklärung der Mordserie und kündigte ernsthafte Schritte gegenüber jenen Gruppen an, die "glauben, über dem Gesetz zu stehen".
Ali al-Mikdam hat wenig Hoffnung, dass der Premier damit Erfolg haben wird. Er glaubt, dass die Proteste im Oktober erneut aufflammen werden. "Die Jugend weiß, dass sich das Land von Grund auf ändern muss", sagt al-Mikdam. Der Zustand des politischen Systems des Irak erinnere ihn an einen Leichnam: "Alle versuchen ihn aufzurichten, ihn zu parfümieren, ihn wiederzubeleben. Aber am Ende ist es ein toter Körper, der beerdigt werden muss."