Süddeutsche Zeitung

Irak:Machtkampf in der Grünen Zone

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Mit der neuerlichen Besetzung des Parlaments wollen die Anhänger des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr einen proiranischen Regierungschef verhindern. Der politische Konflikt droht zu eskalieren.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Tausende Anhänger des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr haben zum zweiten Mal innerhalb einer Woche die grüne Zone im Zentrum von Bagdad gestürmt. Seit letzten Sonntag halten sie das schwerbewachte Areal besetzt und haben die Parlamentsabgeordneten in die Flucht getrieben. In der mit Mauern und Stacheldraht gesicherten Grünen Zone sind neben dem Parlamentsgebäude auch Botschaften und Ministerien untergebracht.

Nachdem Al-Sadr trotz seines Wahlsieges bei den Parlamentswahlen im Oktober keine Regierung hatte bilden können, änderte er offenbar seine Taktik. Die 70 Abgeordneten seiner Partei "die Marschierenden" zogen sich im Juni aus dem Parlament zurück und überließen einem konkurrierenden proiranischen Parteienblock das Feld. Die seit Jahren im Irak einflussreichen Parteien haben sich in der "Koordinierungsrahmen"-Allianz zusammengetan. Angeführt von dem ehemaligen Premierminister Nuri al-Maliki, einigten sie sich nach dem Auszug der Pro-Sadr-Fraktion auf Mohammed al-Sudani als Kandidaten für den Posten des Regierungschefs.

Wegen des kompromisslosen Vorgehens der Wahlverlierer mobilisierte Al-Sadr seine Anhänger. Bei der ersten Besetzung der Grünen Zone schossen die Sicherheitskräfte in die Luft, mehrere Demonstranten wurden durch Tränengasgranaten verletzt. Doch letztlich verjagten die zahlenmäßig weit überlegenen Unterstützer Al-Sadrs Armee und Polizei.

Nachdem die Demonstranten ihrer Forderung nach einem Amtsverzicht Al-Sudanis und dem Ende des iranischen Einflusses im Irak Luft gemacht hatten, zogen sie sich friedlich zurück. Doch Al-Sudani und der proiranischen Parteien ignorierten Al-Sadr und verstärkten die Wachen an den Kontrollpunkten der Grünen Zone. Am vergangenen Wochenende rissen dann Demonstranten mit Baggern und Planierraupen Mauerteile der Grünen Zone nieder und übernachteten in dem Sitzungssaal.

Kein Kompromiss in Sicht

"Der Sturm der demokratischen Institutionen zeigt wie kaum ein anderes Vorkommnis der letzten Jahre, dass uns das politische Labor Irak in die Luft zu fliegen droht", sagt der irakische Analyst Ali al-Baidar.

Die Aufrufe von Noch-Regierungschef und Armeeoberbefehlshaber Mustafa al-Khadimi an die Demonstranten, sich zurückzuziehen, blieben bisher unerhört. Eine solche Eskalation hätte vor wenigen Wochen noch niemand für möglich gehalten, sagt Ali al-Beidar. Der Analyst sieht keine Lösung des Konflikts ohne Druck von außen: "Keine der beiden Seiten ist bereit für einen Kompromiss. Nach seinem Scheitern mit der Regierungsbildung hat Al-Sadr die demokratische Bühne verlassen und setzt auf eine Art revolutionäre Straßenbewegung."

Doch die Stürmung der Grünen Zone scheint einer durchdachten Choreographie zu folgen. Am Dienstag forderte ein Berater Al-Sadrs die im Plenarsaal kampierenden Menschen auf, das Parlament zu verlassen, aber in der Grünen Zone zu bleiben. Mohammed Saleh al-Iraki schrieb auf Twitter, man solle in den nächsten 72 Stunden einen friedlichen Sitzstreik vor den Regierungsgebäuden und dem Parlament beginnen. Nach dem Freitagsgebet am kommenden Freitag wolle man mit einem Protestmarsch den Forderungen nach einem Regierungschef nach Sadrs Vorstellungen Nachdruck verleihen, schrieb al-Iraki in moderatem Ton.

Al-Sadrs Hauptziel ist es, die Abstimmung über den iranfreundlichen Kandidaten Al-Sudani zu verhindern. "Iran wird aber kaum seinen Einfluss im ölreichen Irak aufgeben und damit ein wichtiges Faustpfand bei den Verhandlungen über die Atomwaffen und ein Ende der Sanktionen aus der Hand geben", sagt Ali al-Baidar.

Erfolg bei der Wahl

Seit seinem Wahlsieg im Oktober hat sich Muktada al-Sadr in demonstrativer Bescheidenheit geübt. Den Jubel und die großen Gesten überlässt er gerne seinen Anhängern, die ihn als einen von ihnen feiern. Sein Bündnis Sairun, die Marschierenden, hat 73 von insgesamt 329 Parlamentssitzen errungen, deutlich mehr als bei den Wahlen von 2018.

Ein Erfolgsrezept des Geistlichen ist seine Familie. Er ist der Sohn des Großajatollah Muhammad Sadik al-Sadr, der sich gegen den 2003 gestürzten Diktator Saddam Hussein auflehnte und sein Engagement 1999 mit dem Leben bezahlte.

Den Mut des Vaters schreiben vor allem Iraker aus den schiitischen Armenvierteln der Hauptstadt seinem Sohn zu. Nachdem die Amerikaner 2003 in den Irak einmarschiert waren, stellte sich Muktada al-Sadr mit seinen Anhängern mit wenigen Waffen der Interventionsmacht in den Weg. Seine Anhänger griffen US-Truppen immer wieder aus dem Hinterhalt an.

Als einer der wenigen schiitischen Prediger gibt er sich betont überkonfessionell und präsentiert sich als Vertreter des gesamten irakischen Volks, inklusive der sunnitischen Minderheit. Dass er zugleich aber auch schiitische Identifikationsfigur ist, demonstriert er durch den schwarzen Turban der Nachfahren des Propheten, den er fast immer trägt.

Schwere Wirtschaftskrise

Genauso wie er sich gegen die US-Besatzer auflehnte, wendet er sich nun gegen den iranischen Einfluss auf die Politiker im Irak. In jüngster Zeit versuchte er über verschiedene Milizengruppen sowie Kontakte ins Umfeld der irakischen Regierungsspitze, Einfluss auf die Führung in Teheran auszuüben, scheinbar erfolglos.

Die neue Regierung im Irak muss die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten meistern. Korruption, mangelhafte Infrastruktur, Wassermangel und Versorgungsengpässe ließen immer wieder spontane Bürgerproteste entstehen. Al-Sadr stellte sich auch auf ihre Seite, als irakische Sicherheitskräfte auf die Demonstranten schossen. Doch der Wechsel zwischen seiner Rolle als Oppositionsführer, Wahlsieger und religiöser Führer wird wohl nicht mehr lange funktionieren. Viele seiner Anhänger in der Grünen Zone fordern auf Plakaten vehement bessere Lebensumstände und Politiker, die zu ihrer Verantwortung stehen.

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