Süddeutsche Zeitung

Irak:Die Menschen von Mossul vergessen nicht

  • Die irakische Armee hat die Dschihadisten des IS aus den meisten Teilen Mossuls vertrieben.
  • Inzwischen gibt es wieder Lebensmittel, Polizisten versuchen die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.
  • In Gesundheitswesen und Justiz hingegen ist die Lage noch prekär - und auch politisch wird das Erbe von zwei Jahren IS-Herrschaft noch lange zu spüren sein.

Von Paul-Anton Krüger, Mossul

Das Sortiment im Laden von Omar al-Obaidi hätte ihn vor ein paar Monaten noch den Kopf gekostet. Die Wasserpfeifen in den Regalen, die Pfeifenköpfe aus Ton, die bunten Plastikschläuche samt dem wulstigen Mundstück, die Drahtbürsten zum Sauberhalten des Rauchgeräts. Dazu bietet Obaidi auch noch den Tabak an, traditionell mit Melasse gemischt oder neumodisch parfümiert mit Apfel, Melone, Pfirsich. Und natürlich Zigaretten.

Die schönsten Wasserpfeifen, kunstvoll verziert, präsentiert er vor seinem Laden. Der liegt an einer Einkaufsstraße in al-Zuhour, einem Bezirk im Osten Mossuls, der so etwas ist wie das Herz im befreiten Teil der zweitgrößten irakischen Stadt. Bis Ende November herrschte auch in diesem Teil der Stadt noch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Dann eroberten irakische Truppen die Gegend, die alle nur Sayyidati al-Jamila nennen, nach dem berühmten Restaurant ein paar Hundert Meter weiter.

Es gibt alles zu kaufen, aber niemand hat Geld

Die lust- und genussfeindlichen Dschihadisten hatten den Tabak kistenweise auf großen Haufen verbrannt; die Narghile, wie die Wasserpfeifen in Mossul heißen, zerstörten sie, indem sie mit Dampfwalzen darüberfuhren. Auch Omar al-Obaidis Finger zertrümmerten sie - Schläge mit einer Metallstange. Die Hisbah hatte den Mann aus dem Tabakladen mit einer Schachtel Zigaretten erwischt. Aufgabe der IS-Sittenpolizei war es gewesen, dafür zu sorgen, dass Mossuls Bewohner die strikten Vorschriften im Kalifat einhielten. Sie reichten von der Kleiderordnung bis zum Rauchverbot.

Jetzt qualmen Obaidi und die Nachbarn pausenlos, am liebsten dünne, elegante Zigaretten: Das ist der Geschmack der Freiheit, auch wenn sich echte Marlboros keiner leisten kann. Die Männer im befreiten Teil von Mossul sitzen in der Frühlingssonne, trinken Tee, rauchen. Sie sind zwischen 30 und 50, alle glatt rasiert, ein paar bestenfalls mit Schnauzer. Und sie sind alle durchaus entspannt und gut gelaunt.

Das Leben ist zurück im Osten von Mossul. Die Straßen sind verstopft, weil die Autos wassergefüllte Krater umkurven müssen von Luftangriffen oder Autobomben. Es gibt frische Äpfel, Bananen, Wassermelonen, die Menschen kaufen Tomaten, Gurken, Petersilie, bei manchen reicht es für Hammel und Karpfen. Benzin wird vom Tankwagen herunter verkauft, in Plastikflaschen oder Blechkannen.

Auf die Armee lassen die Menschen nichts kommen

Es herrscht kein Mangel. Die Märkte und Läden sind voll mit Waren, auch die Geschäfte von Obaidis Nachbarn. Der eine führt Kleidung, der nächste Farben und Pinsel, ein dritter Haushaltswaren, bunter, billiger Plastikkram aus China. Oder Matratzen, wie Mohammed Zaid, 33. "Es gibt alles zu kaufen, auch zu vernünftigen Preisen", sagt er. "Aber niemand hat Geld."

Zaid ist Lehrer. Seit mehr als fünf Monaten unterrichtet er wieder in der Schule, die Zentralregierung in Bagdad betreibt sie, zumindest nominell. Unterrichtet wird in zwei Schichten, damit alle Kinder kommen können. Auf sein Gehalt wartet er bis heute. Deswegen hat er den Laden eröffnet, arbeitet dort die dritte Schicht, um etwas dazu zu verdienen. "Die Gehälter sind das größte Problem", sagt Zaid.

Die anderen nicken - ohne Geld ist die Freiheit nicht viel wert. "Überschrift: ,Die Gehälter sind unser Recht!'", diktiert Zaid auf Englisch und malt mit den Fingern große Buchstaben in die Luft. Auch wenn sie für die Regierung in Bagdad kaum ein gutes Wort finden, auf die Armee lassen sie nichts kommen, die Soldaten behandelten die Menschen gut.

Aber die Regierung, dominiert von schiitischen Politikern und Parteien, die mögen die Sunniten von Mossul nicht. "Sie haben doch Datenbanken mit den Namen jener, die sich dem IS angeschlossen haben", sagt Zaid. Was glauben Sie, warum kein Geld ins befreite Mossul fließt? Betretenes Schweigen, die Männer schauen zu Boden, ziehen an ihren Zigaretten, schlürfen Tee. "Das müssen die in Bagdad beantworten", sagt einer. Ein anderer spricht offen aus, was andere nur denken: "Sie hassen die Bevölkerung von Mossul, weil wir zweieinhalb Jahre unter Daesch gelebt haben. Dabei haben die allermeisten nichts mit Daesch zu tun gehabt"; er benutzt die arabische Bezeichnung für den IS. Seinen Namen soll man nicht schreiben - er befürchtet Repressionen aus Bagdad.

Es sind Ressentiments, die einen neuen Konflikts auslösen können, wenn Mossul ganz befreit ist. Denn wer die Stadt und die umliegende Provinz Niniveh regieren soll und wie, dafür gibt es kein abgestimmtes Konzept. Der Bagdader Premierminister Haidar al-Abadi und der kleine Zirkel seiner Vertrauten seien ausgelastet, den Krieg gegen den IS zu managen, sagen westliche Diplomaten. Ob die USA in der Lage sind, einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herbeizuführen, ist fraglich. Und das nicht erst, seitdem Donald Trump im Weißen Haus regiert.

Die lokalen Polizisten verbarrikadieren sich

Einstweilen versuchen Einheiten der Armee, der Bundespolizei und lokale Polizisten sowie eine Reihe von Milizen, den befreiten Osten stabil zu halten. Mit wechselndem Erfolg, wie Zaid und seine Freunde sagen - die Sicherheit bleibt ein Problem. Ein IS-Selbstmordbomber hatte sich Mitte Februar im Restaurant Sayyidati al-Jamila in die Luft gesprengt; zehn Menschen starben. Weitere Attacken folgten, Schläferzellen halten sich in der Stadt versteckt. Die Beamten in den lokalen Polizeistationen, die es inzwischen in jedem Viertel gibt, haben sich hinter Betonmauern und Stacheldraht verbarrikadiert. Sie heben Sprengstofflager aus, verhaften IS-Kämpfer, finden Hinweise auf Dschihadisten und Anschlagspläne. Aber meist trauen sie sich nur im Konvoi hinaus, mit aufgepflanzten Maschinengewehren auf den Pick-ups.

Gegen viele Bedrohungen sind sie ohnehin machtlos. Vor zwei Tagen sei eine Katjuscha-Rakete aus dem Westen der Stadt direkt in den Kreisverkehr vor dem Lokal eingeschlagen: Ein Soldaten tot, zwei Passanten verletzt. Viereinhalb Kilometer sind es vom Kreisverkehr bis zum Tigris. Am anderen Ufer liegt Mossuls berühmte Altstadt, in diesen Vierteln halten sich die letzten Kämpfer des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi verschanzt. Einige Viertel am Ostufer bleiben aus Sicherheitsgründen gesperrt, die Dschihadisten schießen mit Mörsern über den Fluss. "Für uns ist das Routine inzwischen", sagen die Männer. Verglichen mit der Situation im Westen sei es jedenfalls gut - und ohnehin sei alles besser, als unter dem IS zu leben.

Wie prekär die Lage ist, zeigt sich auch im Gesundheitszentrum des Bezirks al-Muharibin. Es war früher ein Waisenhaus und Altenheim, wurde zur Klinik umgerüstet. Es gibt eine Notaufnahme und einen Operationssaal, betrieben von Ärzte ohne Grenzen. Weil der IS das größte Krankenhaus in Ostmossul gesprengt hat, ist das neue Hospital Anlaufpunkt für Notfälle aus der ganzen Stadt: Zwischen 500 und 1000 Patienten behandeln die Ärzte pro Tag.

Gerade ist die Leiche eines Unbekannten gebracht worden, der ohne Papiere am Straßenrand gefunden wurde: Kopfschuss, das Blut auf seiner Schläfe ist noch feucht. "Wir kriegen jeden Tag ein bis zwei solcher Fälle, manchmal auch fünf", sagt Muhammed Qutaiba, 35, Chirurg und leitender Arzt. Somit wird die Klinik zur zentralen Anlaufstelle auch für die Gerichtsmediziner. Niemand weiß, ob die Toten Opfer von Racheakten sind, ob politische oder kriminelle Motive hinter den Morden stehen. Die Polizei ermittelt zwar, aber Strafverfolgung und Justiz in Mossul funktionieren noch nicht wieder richtig.

Die Menschen von Mossul vergessen nicht

Das Misstrauen sitzt tief. "Wir wissen, wer zuerst mit den afghanischen Hosen herumgelaufen ist", haben die Männer in al-Zuhour gesagt. Sie meinen: Wer sich in knöchellangen Hosen kleidete und damit zeigte, dass er mit dem IS sympathisierte oder sich ihm angeschlossen hatte. Die Dschihadisten haben Tausende in Mossul ermordet, auf unvorstellbare Weise gefoltert. Genaue Zahlen kennt niemand; Ärzte wurden gezwungen, Totenscheine zu fälschen, Unterlagen hat der IS verbrannt. Aber die Menschen von Mossul vergessen nicht - manche haben die ganze Familie verloren, bis heute werden Menschen verletzt von heimtückischen IS-Sprengfallen. "Neulich hatten wir einen Zwölfjährigen", sagt Qutaiba. "Er hatte versucht, eine Neonröhre zu wechseln - Bumm!" Seine rechte Hand wurde zerfetzt; mit Glück überlebte er.

Auch bei der Grundversorgung hakt es noch; zehn bis zwölf Stunden Strom gibt es in den meisten Vierteln, er kommt aus Generatoren. Die Wasserleitungen sind oft zerstört, Trinkwasser muss mit Tankwagen herangekarrt werden; die Menschen graben Brunnen neben ihren Häusern. "Die sind meist nur ein paar Meter tief; das Wasser ist trüb und salzig und eigentlich nicht trinkbar", sagt Qutaiba. Es mische sich mit Abwasser; wenn es wärmer werde, könne die Cholera ausbrechen. Der Arzt hat Schatten um die Augen, er arbeitet 16 Stunden am Tag, manchmal mehr. Aber er sprüht vor Energie. Er sagt, was wohl fast alle in Mossul denken: "Wir wollen einfach wieder ein normales Leben leben können!"

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SZ vom 24.04.2017/ees
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