Der Terminplan wollte es, dass Peter Harry Carstensen (CDU) am Freitag verdiente Zeitungsausträger zu ehren hatte. Die von ihnen seit Jahrzehnten pünktlich gelieferten Blätter kennen derzeit nur ein Thema: den Fall Christian von Boetticher. Den Empfang in Molfsee nahe Kiel nahm der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein nun zum Anlass, etwas loszuwerden: "Die Presse muss frei und unabhängig sein. Das heißt aber nicht, dass unter dem Deckmantel der Pressefreiheit alles erlaubt ist."
Eine Anspielung nur, aber die schlagzeilenträchtige Teenager-Affäre seines gestürzten Kronprinzen wird sich noch häufiger im Alltag der Kieler Politik wiederfinden. Denn in der Nord-CDU besteht eine Menge Klärungsbedarf darüber, wann wer was über die "Liebschaft" (Carstensen) des gestürzten Landesvorsitzenden, Ex-Spitzenkandidaten und Ex-Fraktionschef mit einer 16-jährigen Rheinländerin wusste. Eines zeichnet sich aber nach der turbulenten Kieler Woche ab: Die SPD hat trotz des Wahlkampfs nichts damit zu tun. Es ist eine interne Angelegenheit der CDU.
Niemand erwartet, dass Christian von Boetticher in der kommenden Woche im Landtag erscheinen wird. Die Grünen haben schon ihre Einverständnis signalisiert, das Fernbleiben des Abgeordneten "CvB", so sein Branchenkürzel, dadurch abzusegnen, ebenfalls einen Abgeordneten zu Hause zu lassen. Damit soll verhindert werden, dass die CDU/FDP-Koalition ihre Ein-Stimmen-Mehrheit durch Boettichers Abwesenheit verliert. Politisch grenzwertig, aber menschlich angezeigt sei das, sagen die Grünen - niemand wolle den Mann weiter in die Enge treiben.
Boetticher ist angeschlagen. CDU-Politiker, die ihn am Sonntag vor seinem tränenreichen Rücktritt sprachen, beschrieben ihn als "allein, aufgelöst und einsam". Er sei überzeugt davon, eine Intrige aus der eigenen Partei habe ihn zu Fall gebracht, er fühle sich "aus der CDU unter Druck gesetzt".
Der Ablauf der Affäre lässt sich inzwischen recht genau rekonstruieren. Ein interessantes Datum ist dabei die Mondfinsternis am 15. Juni 2011. An diesem Abend hatte die CDU in Eutin den Landesvorsitzenden Boetticher zu einer für den Kreisverband wichtigen Sitzung eingeladen. Doch der erschien nicht, postete stattdessen auf Facebook, er werde sich "eine der längsten Mondfinsternisse dieses Jahrhunderts" ansehen.
Kurz darauf hat Boetticher sein Facebook-Konto aufgegeben. Offiziell, um die Partei nicht länger damit zu nerven, die zu Zeiten der großen Koalition schon unter dem fleißig Interna twitternden SPD-Fraktionschef Ralf Stegner gelitten hatte. Heute heißt es in Kiel: Es deutete sich schon im Juni an, dass Boettichers Liebelei bald über Facebook hätte auffliegen können.
Anfang 2010 hatte sich Boetticher via Facebook mit einer damals 16-jährigen aus dem Parteinachwuchs eingelassen. Der Name des Mädchens aus Grevenbroich, das sein Konto im sozialen Netz seit Freitag gelöscht hat, tauchte sogar in vielen Freundeslisten von Politikern verschiedener Parteien auf, ohne dass die davon wissen mussten. So gehörte sie auch zu den jeweils mehreren Tausend "Freunden" von SPD-Politiker Ralf Stegner oder dem Grünen-Fraktionsschef Robert Habeck - und eben Christian von Boetticher. Der heute 40-Jährige ließ das Polit-Groupie aber nicht nur seine Pressemitteilungen via Facebook lesen, sondern begann eine monatelange Beziehung mit ihr. Es sei, sagte er nach seinem Rücktritt, "schlichtweg Liebe" gewesen.
Nun hat sich die junge Frau in diesem Sommer angeblich wieder an den Ex-Geliebten gewandt, der sie verlassen hatte, bevor er Landeschef der CDU wurde - und war abgeblitzt. Sogar eine andere geheiratet hat Boetticher inzwischen. Womöglich aus Enttäuschung, heißt es in Kieler Kreisen, habe sich die Ex-Geliebte einem Bekannten aus der Jungen Union in Plön anvertraut und ihm etliche E-Mails übermittelt, die ihr Verflossener und sie sich geschrieben hatten.
Die kompromittierenden Daten lagen nun im Kreis Plön, wo verschiedene Personen aus unterschiedlichen Gründen Groll gegen Christian von Boetticher hegten. Sei es, weil der Fraktionschef einen von ihnen öffentlich abgekanzelt hatte, sei es, weil ein anderer Landesvorsitzender der Jungen Union hatte werden wollen, aber an einem Boetticher-Mann gescheitert war. Jemand aus Plön, heißt es, habe die Mails jedenfalls direkt in die Staatskanzlei in Kiel weitergeleitet - wer genau, ist derzeit nicht zu klären.
Ministerpräsident Carstensen behauptete am Freitag in einem Interview mit der Welt, erst am 13. Juli über "Gerüchte" erfahren, die Mails aber nicht gekannt zu haben. Andere Quellen in der CDU behaupten, das Material über die Liebschaft sei gar mehreren Zeitungen angeboten worden, die aber abgelehnt hätten - angeboten aus CDU-Kreisen.
Boetticher fühlte sich jedoch rechtlich und damit auch politisch sicher. In allen, über zwei Wochen verteilten Gesprächen mit Carstensen lehnte er einen Rücktritt ab. Die Medien hoffte er durch eigene Kontakte zu Verlagen und Journalisten sowie die Dienste etwa des Medienberaters Jost Springensguth, einst Chefredakteur der Kölnischen Rundschau und auch für Carstensen tätig, im Griff zu halten. "Von dem dachte er, er würde ihn retten", sagt ein CDU-Abgeordneter. "Hat ja wohl nicht geklappt."
Nachdem Carstensen ("Pass' auf, Christian, die Geschichte geht schief") Boetticher mit seinen Argumenten nicht mehr erreichte, obwohl er dessen steile Karriere gegen Widerstand in der Partei durch persönlichen Schutz überhaupt erst ermöglicht hatte, rief er am 9. August Kanzlerin Angela Merkel an, die "nicht amüsiert" gewesen sei.
Schon zwei Tage später war Boettichers Verhältnis Tuschelthema auf der Stallwächterparty der Fraktion, wo sich Abgeordnete und Journalisten im Sommerloch treffen - und stand am folgenden Sonntag in mehreren Sonntagsblättern, noch ehe Boetticher sich dem Landesvorstand auf einer schon einberufenen Sitzung erklären konnte. Es blieb ihm nur der tränenreiche Rückzug.