Interview zur Debattenkultur:Wer richtig argumentiert, lässt Populisten keine Chance

Symbolfoto Streit Mann und Frau streiten diskutieren kontrovers Beziehungsstress *** Symbol phot

Gesellschaftspolitische Diskussionen werden heute immer unversöhnlicher geführt.

(Foto: imago/Jochen Tack)

Miteinander diskutieren, so richtig, das wird immer seltener. Der Philosoph Daniel-Pascal Zorn erklärt, warum er trotzdem optimistisch ist, wie wir wieder Lust an Komplexität bekommen - und was Claudia Roth damit zu tun hat.

Interview von Sebastian Gierke

Heute startet das Projekt "Deutschland spricht", mit vielen anderen deutschen Medien ist auch die Süddeutsche Zeitung daran beteiligt. Es geht dabei darum, Menschen, die gegensätzliche Meinungen vertreten, zum Gespräch zusammenzubringen. Wie das genau funktioniert, beantworten wir in diesem Text.

Warum die Auseinandersetzung im Gespräch so wichtig für eine Gesellschaft ist, darüber haben wir mit dem Philosophen Daniel-Pascal Zorn diskutiert:

SZ: Claudia Roth hat vor einigen Tagen im Bundestag auf die provokative Frage, wie viele Flüchtlinge die Grünen denn noch aufnehmen wollen, ganz offensichtlich ironisch mit dem Zwischenruf "Alle" geantwortet. Zwei Tage später warf ihr Alexander Dobrindt das im Bundestag vor. Die Ironie hat der CSU-Mann unterschlagen. So was zeigt doch: Der Diskurs in Deutschland ist gerade extrem vergiftet.

Daniel-Pascal Zorn: Claudia Roth hätte das relativ leicht vermeiden können. Vielleicht mit einer Kunstpause und einer weiteren Wendung, so dass die Ironie ankommt.

Geben Sie Claudia Roth an dieser mutwilligen Verdrehung die Schuld?

In der aktuellen Situation, in der Populismus so im Vordergrund steht, wird einem wirklich jede Aussage so ausgelegt, dass sie eindeutig einer bestimmten Position zuzuordnen ist. Pro oder Contra, dazwischen gibt es nichts. Und deshalb war der bloße Zwischenruf, glaube ich, tatsächlich zu wenig. Die Schuld trägt aber natürlich der, der verdreht.

Wenn das so ist, dann hat irgendwann keiner mehr Lust oder den Mut, mit jemandem zu diskutieren, der einen anderen Standpunkt vertritt. Warum ist das Gespräch wichtig?

Weil wir nur in der Auseinandersetzung herausfinden können, was wir gemeinsam haben. Und diese Gemeinsamkeit ist die Grundlage jeder politischen Handlung.

Sie versuchen das auf Facebook?

Ja, ich versuche dort eine Auseinandersetzung am Laufen zu halten, die nicht schon von vornherein das Ergebnis kennt. Es ist aber auch eine Didaktik, die zeigen soll, wie man verhärtete Positionen kritisieren kann, ohne selbst in eine verhärtete Position zu geraten. Ich will zeigen, dass das geht und wie das geht. Dass man so von einem verhärteten hin und wieder zu einem offenen und pluralen Streit kommt

Na dann: Warum könnte es sein, dass Sie nicht recht haben mit dem was Sie sagen?

Ich muss jederzeit mitdenken, dass das, was ich hier vertrete, nicht die Wahrheit ist, sondern zunächst nur meine Position. Und ich bin bereit, sie zu verteidigen, weil ich glaube, gute Gründe dafür zu haben. Wenn Sie bessere Gründe haben, dann können Sie jederzeit versuchen, mich davon zu überzeugen. Und dafür bin ich jederzeit offen. Ich repräsentiere hier keine Weltanschauung, sondern übe eine Praxis der Argumentation, die mich auf das Gleiche verpflichtet, worauf ich mein Gegenüber verpflichte.

Zorn, Daniel-Pascal

Daniel-Pascal Zorn.

(Foto: oh)
Daniel-Pascal Zorn

Durch das 2017 erschienene Buch "Mit Rechten reden", das er mit Maximilian Steinbeis und Per Leo geschrieben hat (Klett-Cotta, Stuttgart 2017, 183 Seiten, 14 Euro), wurde Daniel-Pascal Zorn (Jahrgang 1981) bekannt. Er studierte neben Philosophie auch Geschichte und Komparatistik. Das Mittel der Wahl des Philosophen: die Logik. So kommentiert er auf seiner Facebook-Seite aktuelle politische Äußerungen, indem er sie logisch auseinandernimmt.

Ich versuche das mal mit den besseren Gründen: Wenn ich in die Welt schaue, stelle ich fest, dass Argumente nichts mehr zählen.

Viel zu oft nehmen wir das Behaupten als Begründung. In dem Moment verlieren wir das Kriterium, anhand dessen wir beurteilen können, wer eigentlich derjenige ist, der lügt und wer derjenige ist, der die Realität trifft. Wir kennen das heute als Fake News, als alternative Fakten. Aber hier findet eine Verwechslung statt. Schon das Vorbringen von angeblichen Fakten zählt dann als Fakten. Dabei behaupten Fakten ja immer einen Sachverhalt und zwar einen, den zwei Menschen anhand gemeinsam geteilter Maßstäbe nachprüfen können. Ich bin der Meinung: Man muss den Leuten zeigen, wie die Praxis des Erkennens von Kriterien funktioniert und dass sie es die ganze Zeit schon machen.

Wir machen das schon?

Wenn da ein rotes Auto parkt und jemand sagt, das ist ein blaues Auto, würde jeder sagen, das ist falsch, aber kein Problem, das können wir überprüfen. Nur bei bestimmten Themen fangen wir plötzlich an, so zu tun, als wüssten wir nicht, wie wir sie nachprüfen können. Man sollte darauf achten, an welchen Punkten jemand ohne Probleme empirische und logische Nachweise anerkennt. Und an welchen, beim Thema Flüchtlinge zum Beispiel oder bei der Sozialpolitik er plötzlich anfängt, in einen Relativismus hineinzulavieren, weil es politisch sinnvoll scheint.

Das Auto ist rot. Okay. Aber andere Themen sind nicht so klar. Es gibt Fragen, auf die gibt es keine eindeutigen Antworten. Heute ist es doch aussichtsloser als jemals zuvor, gegen die Demagogie, die Lüge, die Trugbilder vorzugehen, weil das hieße, dass man die Dinge komplizierter machen müsste, man müsste komplexe Zusammenhänge mitdenken, dabei gibt es heute eine unaufhaltsame Tendenz zur Vereinfachung.

"Unaufhaltsam"? Wirklich? Wer eine "unaufhaltsame Tendenz" von vornherein als wahr annimmt, hat damit das Urteil schon gefällt. Dagegen kann man nicht mehr argumentieren, weil es ja "unaufhaltsam" ist. Das Argument ist nicht widerlegbar.

Ist die Tendenz zur Vereinfachung nicht unaufhaltsam?

Sie erscheint uns unaufhaltsam. Dafür gibt es Gründe. Zum Beispiel, dass wir vergessen, dass jede Äußerung, die sinngemäß lautet: Argumentieren ist sinnlos, dass jede dieser Äußerungen ein Beitrag in einer Diskussion ist. Das sind alles Versuche, miteinander zu reden. Viele vergessen also, dass sie das, was sie so vehement als sinnlos aburteilen, im gleichen Moment tun. Sie versuchen, andere davon zu überzeugen, dass sich überzeugen wollen vollkommen sinnlos ist. In diesem Widerspruch steckt ein Grund dafür, dass die Vereinfachung so unaufhaltsam erscheint. Es kommt zu einem Exzess der ständigen Selbstbestätigung und das Gesagte wird zu einer Art Glaubenshaltung.

Aber es heißt doch nicht umsonst: "Die bittere Wahrheit". Die Lüge ist süß. Die Lüge ist nicht das, was wir hören müssen, sondern das, was wir hören wollen.

Dieses Motiv der bitteren Wahrheit wird auch in der populistischen Argumentation ständig verwendet: Man müsse aufwachen, die Realität anerkennen, die Wahrheit, auch wenn sie wehtut. Das wird ständig vorgebracht. Aber diese Argumentation ist problematisch. Ich kann natürlich zu jemandem sagen: 'Du lebst im Schein, ich habe die Wahrheit.' Und der andere kann sagen: 'Nein, nein, du lebst im Schein. Ich habe die Wahrheit.' Dann haben wir eine Art Patt. Die Frage ist: Was ist das Kriterium anhand dessen wir entscheiden können, wer von uns recht hat. Und da würde ich eben immer argumentieren: Es hängt davon ab, ob derjenige mir belegen kann, dass ich falsch liege und belegen kann, dass er richtig liegt. Ob er es gut begründen kann.

Aber noch mal: Wenn nicht klar ist, wer im Recht ist, weil das Problem zu komplex ist. Was dann?

Wir haben uns heute darauf festgelegt, dass Komplexität Verunsicherung bedeutet. Jede Form von Komplexität oder Kompliziertheit wird als Quell möglicher Frustration empfunden. Das ist im Alltag auch sinnvoll. Jemand der einen Acht-Stunden-Arbeitstag hat, der muss sich nicht mit epistemologischen Fragen auseinandersetzen. Trotzdem muss das nicht so bleiben. Nehmen wir das 19. Jahrhundert: Vorher gab es eine Welt des Adels und der Kirche, sehr einfach. Als diese Ordnung weg war, entdeckten die Menschen eine Lust an der Komplexität. In dieser Zeit wurden die großen wissenschaftlichen Entdeckungen gemacht. Das müssen wir wiedergewinnen. Wir müssen begreifen, dass die Welt vielfältig ist, dass es verschiedene Perspektiven gibt. Das bedeutet aber nicht, dass man gar nichts über eine Sache sagen kann.

Der Mensch als Spielball der Triebe?

Ist der Mensch überhaupt in der Lage, die Realität zu erkennen?

Das wurde vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt. Zum Beispiel mit der Psychoanalyse. Oder es ging um Sprache, die uns beherrscht oder die Geschichte. Da hieß es dann, der Mensch wird eigentlich gesteuert von ganz verschiedenen Faktoren. Und seine Freiheit ist prekär.

Der Mensch als der Spielball von Affekten und Trieben, Freud.

Genau. Das ist ein altes metaphysisches Schema, das mit Wissenschaft nicht viel zu tun hat, weil sie sonst unmöglich wäre. Wissenschaft ist weder die Suche nach dem verlorenen metaphysischen Ursprung, noch ist sie die Suche nach der absoluten Ratio. Wissenschaft bedeutet: "Noch nicht wissen. Und: "mehr wissen". Wissenschaft bedeutet nicht: "alles wissen". Aber eben auch nicht: "nichts wissen". Und das halten wir sehr schwer aus. Wir wollen immer zum Alles oder zum Nichts, weil das Alles oder das Nichts so aussieht, als ob wir dann fertig sind, die Anstrengung damit zu Ende ist, wir endlich Pause machen können. Bis jemand kommt und sagt: ist noch nicht erledigt. Wir müssen noch ein paar Fragen stellen. Wenn wir es schaffen, wieder eine Lust daran zu wecken, in komplexeren Zusammenhängen zu denken, können wir es auch schaffen, einen Diskurs zu führen, in dem eben nicht nur dogmatische Positionen sich selbst darin bestätigen, dass es nur dogmatische Positionen gibt.

Was antworten Sie denen, die Menschen als gefangen im Naturzustand verorten. Der Mensch ist ein Tier, es gilt das Recht des Stärkeren, wir können gar nicht anders.

Diese Aussage widerlegt sich selbst: Und zwar ganz einfach, indem sie behauptet, sie sei eine anthropologische Konstante - und das in einer Argumentation tut. Wäre es eine anthropologische Konstante, bräuchte man dafür keine Argumentation. Wir sind frei darin uns selbst auszulegen. Es gibt ganz verschiedene Möglichkeiten der Selbstauslegung: Wir sind eigentlich ein wildes Tier, unser Handeln wird von unserem Unterbewusstsein bestimmt. Oder unser Wille ist frei. Die Tatsache, dass die dogmatischen Formen der Selbstauslegung kein besseres Argument haben als ihre ständige Wiederholung, beweist, dass das Bild der freien Selbstauslegung das überzeugendere ist. Das ist die Grundlage unserer Würde.

Aber wenn er nur wütet und nicht argumentiert?

Liberalismus als politische Haltung hat, das zeigt die Geschichte seit der Antike, immer eine Verbindung zu rhetorischen Fertigkeiten, zu logischen und systematischen Fertigkeiten, zu einer bestimmten Form von Erziehung. Wir müssen wieder lernen zu argumentieren, miteinander zu reden. Wir müssen lernen, dass Rede vieldeutig sein kann, dass sie ironisch sein kann, dass sie andeutend sein kann. Wir müssen das gesamte rhetorische und argumentative Spektrum unserer Gesprächsführung wiedergewinnen. Denn das ist nicht nur eine Verzierung der politischen Rede, sondern das ist mit ihre Bedingung. Wenn man rhetorische Fertigkeiten besitzt, bedeutet das auch, dass es Populisten und Demagogen schwerer haben. Die benutzen ja auch rhetorische Figuren. Doch wenn mehr Leute diese viel differenzierter benutzen, dann gehen die Populisten eher darin unter. Wenn wir das schaffen, dann ist es relativ einfach, den Diskurs wieder zu einem zu verwandeln, der wirklich zu dieser Gesellschaft passt. Dann kann man mit Lust die großen Themen angehen.

Wie lässt sich diese Lust am Streit denn wecken? Gerade was Lust angeht, gibt's ja heute starke Konkurrenz. Netflix. Nur als Beispiel.

Wissenschaftler oder Philosophen müssen, glaube ich, eine doppelte Strategie fahren. Wir müssen immer versuchen, zugleich konstitutiv und kritisch vorzugehen. Wir müssen einerseits zu starke Geltungsansprüche negieren. Denn die sind gerade überall: Jeder glaubt, er weiß über die Welt Bescheid. Gleichzeitig müssen wir die Menschen dazu ermächtigen, gute Urteile fällen zu können. Das kann nämlich jeder. Er muss sich nur an Maßstäben messen lassen, die er nicht alleine festlegt. Das heißt, wir müssen es als gemeinsame Praxis tun und irgendwann in dieser gemeinsamen Praxis entdecken, dass diese Praxis das ist, was wir gemeinsam haben. Auf dieser Basis können wir dann anfangen, neue Narrative zu schaffen, die nicht ständig Unsicherheit, Angst, Furcht, Hass erzeugen. Denn das führt dazu, dass man glaubt, es brauche starke Männer, um unsere Probleme zu lösen.

Aber wenn Sie Menschen ständig darauf hinweisen, dass sie doch bitteschön auch begründen sollen, was sie denken, dann fühlen sich die möglicherweise bevormundet vom Philosophen, der, verschanzt im Elfenbeinturm, gar nicht versteht, was die Menschen in ihrem Alltag bewegt.

Da kann ich aber sagen: Dann erzählen Sie mir doch mal aus dem Alltag. Da kommen garantiert Frustrationserfahrungen zum Vorschein, die offenlegen, dass wir Probleme haben, die wir politisch lösen müssen. Und dass diese Probleme auf die lange Bank geschoben werden, weil man sich immer nur auf ein einziges Thema konzentriert. Aber dadurch gehen die Probleme nicht weg.

Sie meinen das Thema Migration und Flüchtlinge?

Es kommen gerade immer weniger Flüchtlinge nach Deutschland, doch die Politik hat sich vollständig darauf eingeschossen und andere Themen fallen einfach weg, obwohl sie viel wichtiger wären: Bildungsfragen, Fragen der sozialen Gerechtigkeit, all das spielt gerade keine Rolle. Deswegen brauchen wir Menschen, die sich wieder starkmachen für die Lösung der Probleme, die sie in dieser Gesellschaft sehen, die sich nicht darauf verlassen, dass die herrschende Kaste, über die sie sich ständig beklagen, die Themen vorgibt. Wir geben die Themen vor. Themen, in der Mehrzahl.

Wir? Wer ist das?

Ich meine alle, die durch ein Gespräch zusammen sind, auch die Politiker.

Also potenziell alle?

An dem "Wir" hat man in dem Moment Teil, in dem man miteinander redet. Und derjenige, der aufsteht und sagt: 'Ich gehöre nicht zu diesem Wir, dieses Wir wird mir aufgezwungen', der nimmt an dem "Wir" dadurch auch teil. Gerade weil er vehement widerspricht.

Wenn ich an Claudia Roth denke: Das klingt alles sehr optimistisch.

Ich glaube, wir brauchen Optimismus. Es gelingen doch ganz viele Gespräche! Darauf kann man auch mal das Augenmerk richten. Wenn man sich an solchen positiven Beispielen selbst ein Beispiel nimmt, kann man versuchen, die eigene diskursive Umgebung zu verändern. Das kann jeder. Nichts anderes machen die Leute, die wir Populisten nennen. Die haben sich auch ganz dezidiert der Veränderung des Diskurses verschrieben. Warum also nicht sagen: Wir machen jetzt mal unseren Diskurs. Und der ist ein ganz anderer.

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