Interview mit Türkei-Experten:"In der Zwickmühle"

Anschlag in Zeiten der Staatskrise: Türkei-Experte Cemal Karakas über mögliche Motive für das Attentat in Istanbul und das Dilemma der Regierungspartei.

Wolfgang Jaschensky

sueddeutsche.de: Der Anschlag in Istanbul ereignete sich einen Tag bevor das türkische Verfassungsgericht mit den Verhandlungen über ein Verbot der Regierungspartei AKP begonnen hat. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Anschlag und dem Verbotsverfahren?

Interview mit Türkei-Experten: Tatort Istanbul. Wenige Stunden nach dem Attentat sucht die türkische Polizei nach Spuren der Täter des folgenschweren Attentats.

Tatort Istanbul. Wenige Stunden nach dem Attentat sucht die türkische Polizei nach Spuren der Täter des folgenschweren Attentats.

(Foto: Foto: AP)

Cemal Karakas: Ich sehe keinen direkten Zusammenhang. Vieles deutet darauf hin, dass der Anschlag von der PKK verübt worden ist.

sueddeutsche.de: Welches Motiv könnte die PKK gehabt haben?

Karakas: Ein konkretes Motiv könnte die Erhöhung der Militärpräsenz in den kurdischen Gebieten nach der Entführung der Deutschen sein. Der Anschlag soll die kemalistische Staatselite treffen. Die Kemalisten versuchen seit den zwanziger Jahren die multi-ethnische Bevölkerung Anatoliens zu homogenisieren und einen einheitlichen Nationalstaat zu schaffen. Aus den Kurden wollen sie Türken machen. Dass der Anschlag auch die AKP schwächt, passt der PKK natürlich.

sueddeutsche.de: Unter der AKP wurden allerdings zuletzt die Minderheitsrechte der Kurden gestärkt.

Karakas: Ja, mit der kurdenfreundlichen Politik der AKP waren viele Kurden zufrieden. Mit ihrer Negierung des Nationalistischen und dem Einschluss des Muslimischen kommt die AKP bei vielen Kurden gut an. Bei der Parlamentswahl im Juli 2007 hatte die AKP daher sehr starke Stimmenzuwächse im kurdischen Südosten des Landes und war stärker als der politische Flügel der PKK. Das missfällt der PKK.

sueddeutsche.de: Hat der Anschlag Auswirkungen auf das Verbotsverfahren gegen die AKP?

Karakas: Die AKP steckt in einer Zwickmühle: Sowohl die kemalistische Elite als auch die PKK haben ein Interesse daran, die Regierungspartei zu schwächen. Es könnte sein, dass das Militär den Anschlag für sich instrumentalisiert, indem es sagt, dass die AKP nicht mehr handlungsfähig ist. Die PKK könnte versuchen, diese Schwäche auszunützen. Die Reaktion der AKP auf diese Anschläge wird auf jeden Fall gravierende Auswirkungen haben.

sueddeutsche.de: Was muss die türkische Regierung unternehmen, um den Konflikt mit den Kurden und der PKK zu beenden?

Karakas: Der Konflikt ist nicht militärisch, sondern nur politisch zu lösen. Dazu muss die türkische Regierung auch bereit sein, mit der PKK zu verhandeln und sich nicht immer hinter dem Satz "Wir verhandeln nicht mit Terroristen" verstecken. Auf der anderen Seite werden die Verhandlungen nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn die PKK auf ein eigenes unabhängiges Staatsgebiet verzichtet. Ziel könnte eine Autonomie sein, wie sie Südtirol in Italien besitzt. Doch ähnlich wie China im Tibet-Konflikt fürchtet sich die Türkei vor Zugeständnissen, nach dem Motto: "Wenn wir den Finger geben, nehmt ihr die ganze Hand."

sueddeutsche.de: Wie soll sich Europa bei einem Verbot der AKP verhalten, um die politische Situation in der Türkei zu stabilisieren?

Karakas: Die Reaktion der EU muss von der Begründung des Verbots abhängen. Wenn die juristische Begründung wasserdicht ist, wird sich die EU neutral verhalten. Wenn die Begründung schwammig ist, werden die Beitrittsverhandlungen wohl für eine gewisse Zeit suspendiert. Doch die EU muss aufpassen, dass damit nicht antieuropäische Strömungen in der Türkei Oberwasser bekommen.

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