Legendärer US-Präsident:"Lincoln war nicht durch Macht korrumpiert"

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Abraham Lincoln

(Foto: AFP)

Wie war Abaraham Lincoln wirklich? Historiker Jörg Nagler über den Glauben des Präsidenten, seine Depressionen und posthume Instrumentalisierung.

Von Oliver Das Gupta

sueddeutsche.de: Vor 200 Jahren kam Abraham Lincoln zur Welt - ein US-Präsident, auf den sich sein heutiger Nachfolger ständig bezieht. Warum macht Barack Obama das?

Jörg Nagler: Weil er Lincoln in mancher Hinsicht bewundert und als eine Art Vorbild sieht. Ihn faszinieren Lincolns Aufstieg aus der Armut, seine moralische Standfestigkeit und Fähigkeit der Konfliktbewältigung, seine Rhetorik und Professionalität, seine enorme Energie, vor allem aber seine tiefe Menschlichkeit, die er sich auch als Präsident immer bewahrt hat.

Natürlich bewundert er den Politiker, aber vor allem zählt für ihn der Mann und nicht die Ikone. Zur Ikone wurde Lincoln letztlich durch seine Ermordung. Durch den Tod an einem Karfreitag wurde er zum Mythos. Wie bei allen Mythen verschwindet aber ein guter Teil der historischen Person dahinter.

So ging Lincoln in die amerikanische Geschichte ein als eine Meistererzählung, aus der alle US-Politiker schöpfen, gerade die Präsidenten und interessanterweise vor allem die Demokraten unter ihnen. Obama ist es ja egal, dass Lincoln Republikaner war, damals übrigens die fortschrittlichere Partei. Es geht ihm darum, Lincoln als Bürgerkriegspräsident zu vermitteln, der der Nation einen tieferen Sinn gab und sie wieder vereinte.

sueddeutsche.de: Wie wichtig war Lincoln in der US-Geschichte?

Nagler: Umfragen und Historikern zufolge gilt er als größter Präsident. Vielleicht auch gerade, weil er "entrückt" ist. Für die US-Geschichte war er entscheidend, weil er ihre tiefste Krise meisterte, die Einheit des Landes bewahrte und die Sklaverei abschaffte.

Bezeichnenderweise thront er in seinem Memorial über der National Mall: Lincoln ist eine zivilreligiöse Figur geworden, zu der man aufblickt, an deren Statue man ein kleines Gebet spricht. Obama erzählt immer wieder, wie er morgens beim Joggen an Lincolns "Tempel" stoppte. Auch Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt haben Lincoln immer wieder benutzt. Roosevelt verwies auf ihn, als er für seinen New Deal mehr Macht für sich forderte - in Zeiten der Krise habe sein "Vorgänger" das auch getan.

sueddeutsche.de: Lincoln bündelte mit Verweis auf den Bürgerkrieg eine fast diktatorische Machtfülle und ließ das Militär mitunter rücksichtslos operieren - so wie später George W. Bush.

Nagler: In diesem Punkt mag es zwar eine Übereinstimmung geben, doch damit enden schon die Gemeinsamkeiten. Bush wollte eine Kontinuität herstellen, als er das Ende des Irak-Krieges an Deck des Flugzeugträgers "Abraham Lincoln" verkündete, aber das alleine reicht natürlich nicht. Man muss dabei charismatisch und glaubwürdig sein.

sueddeutsche.de: Manche Historiker werfen Lincoln vor, ausschließlich an der Macht interessiert gewesen zu sein.

Nagler: Das stimmt nicht.

"Ein echter Verantwortungsethiker"

Nagler: Das Große an Lincoln ist, dass er als Person des 19. Jahrhunderts durchaus Züge von Schwäche zeigt und auch dazu steht. Auf der anderen Seite hat er unglaublich pragmatisch gehandelt, und er war ein echter Verantwortungsethiker.

Lincoln war nicht durch Macht korrumpiert - er hat weder persönliche Vorteile daraus geschöpft noch diktatorische Strukturen geschaffen. Man darf nicht vergessen: Der Bürgerkrieg wurde brutal geführt und trotzdem blieb die Union eine funktionierende Demokratie.

sueddeutsche.de: Zu Lebzeiten galt Lincoln als hoch umstritten.

Nagler: Lincoln musste sich ständig vor dem Kongress rechtfertigen und wurde als Mann der Mitte permanent angegriffen - von Konservativen wie auch Abolitionisten. Er musste Koalitionen führen und Flügel harmonisieren. Und doch gaben ihm 80 Prozent der Frontsoldaten bei seiner Wiederwahl ihre Stimme.

sueddeutsche.de: Je länger Lincoln Präsident war und der Krieg tobte, desto tiefer drückten ihn Depressionen und Zweifel. Kamen ihm Gedanken an den Ausstieg?

Nagler: Nein. Aber im August 1864 befand er sich in der wohl dunkelsten Zeit seines Lebens und setzte ein sogenanntes "Blind Memorandum" auf, in dem er seinem Kabinett mitteilen wollte, dass er nicht mehr an seine Wiederwahl glaube und im Falle des Wahlsiegs seines Rivalen versuchen werde, mit ihm zusammen noch vor dessen Amtsantritt die Union zu retten, da dies danach nicht mehr möglich sein würde.

Dieses Schriftstück wurde den Ministern zwar nie ausgehändigt und nie geöffnet, liegt uns aber vor. In diesen düsteren Stunden grübelte er auch über Religiöses, über Vorsehung, Gottes Wille. Er stellte fest, dass der Kriegsverlauf und Gottes Pläne durch rationale Erwägungen nicht zu durchschauen seien.

Gott wolle offenbar, dass der Krieg noch weitergehe. Er vermutete, dass Gott Amerika für die Sünde der Sklaverei bestrafen wolle. Dabei sah er nicht etwa den Alleinschuldigen im Süden, nach dem Motto: Gott ist auf unserer Seite; er zweifelte.

sueddeutsche.de: Warum wird diese grübelnde Seite Lincolns heute wenig betont?

Nagler: Vermutlich würden es die Amerikaner nicht so gerne sehen, wie oft Lincoln zweifelte. Er stand auch engen konfessionellen Bindungen eher skeptisch gegenüber, seine Frau überredete ihn immer wieder zum Kirchgang. Lincolns Gottesbild war stark, aber nicht fixiert, er hat sich zu seinem Glauben öffentlich nicht festlegen wollen und sich nie ganz eindeutig dazu geäußert.

"Lincoln war unglaublich ehrgeizig"

sueddeutsche.de: Das Bekenntnis zum Christentum ist inzwischen ein Muss für jeden Präsidentschaftskandidaten.

Nagler: So vage, wie er sich dazu verhielt, würde Lincoln heute vermutlich nicht gewählt werden.

sueddeutsche.de: Inzwischen muss Lincoln als Pate für alle möglichen US-Gruppen herhalten, auch für religiöse Fundamentalisten.

Nagler: Wenn Sie im Internet recherchieren, finden Sie zahlreiche Zitate, die Lincoln untergeschoben werden, Sätze, die er nie gesagt hat. Die Evangelikalen berufen sich gerne auf ihn. Das Wort "Jesus" hat er meines Wissens nur einmal verwendet, und das in einem anderen Kontext. Ironischerweise wird Lincoln durch seinen Märtyrer-Tod am Karfreitag ja mit Jesus assoziiert.

sueddeutsche.de: Lincoln wurde in eine arme, religiöse Familie hineingeboren. Die Vita des Abraham Lincoln ist der amerikanische Traum. Warum war er so wenig stolz darauf?

Nagler: Er hatte eine sehr schwere Kindheit voller Leid und Entbehrungen an der Siedlungsgrenze. Dieser rauen Welt in Armut und ohne Bildung wollte er unbedingt entwachsen...

sueddeutsche.de: ...was er durch enormen Fleiß und extremen Lesekonsum erreichte.

Nagler: Dieses Aufsteigen war für ihn Garantie dafür, sich endgültig vom harten Landleben in der Prärie verabschieden zu können. Er war zwanzig Jahre lang zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen worden und mied sie danach, wo er konnte, er sah seine Talente woanders. Auch das wird heute nicht gerne gesehen, weil es nicht zum griffigen Bild des Selfmademan passt.

Legendärer US-Präsident: Lincoln mit seinem Sohn Tad

Lincoln mit seinem Sohn Tad

(Foto: AFP)

sueddeutsche.de: Trotzdem kokettierte er hin und wieder mit dem Image des Autodidakten, der aus dem Nichts aufstieg.

Nagler: Er bekannte sich zwar nicht allzu gern zu seinen Wurzeln, setzte sie aber doch geschickt ein: Eine Instrumentalisierung, weil das Bild des rodenden Farmers große Emotionen hervorrufen kann.

sueddeutsche.de: Das alles, um nach oben zu steigen, hin zur Macht?

Nagler: Lincoln war unglaublich ehrgeizig. Schon früh hat er einem Freund anvertraut, eine Spur hinterlassen zu wollen - mit aller Macht. Aber missbrauchen wollte er sie auf keinen Fall. Vielmehr reflektierte er stets über die Schattenseiten der Mächtigen.

Schon 1838 fragte er sich: Was passiert eigentlich mit den Diktatoren der Welt? Für ihn war Napoleon das Negativ-Beispiel. Lincoln warnte damals davor, dass die Amerikaner sich durch mangelnde Bildung zu einem Volk entwickeln könnten, in dem die Mob-Gewalt herrscht. Daneben hatte er Angst davor, dass die Nation auseinanderdriftet, was dann später ja auch passierte.

sueddeutsche.de: Die Sklaverei-Frage spaltete Amerika. Abraham Lincoln verabscheute die Sklaverei, wollte aber trotzdem keine volle Gleichberechtigung bzw. Integration der Afro-Amerikaner.

Nagler: Das stimmt für die längste Zeit seines Lebens, wird heute aber oft unterschlagen. Gegen Lebensende änderte er dazu dann seine Meinung. Kurioserweise trat die Figur Lincoln als "Retter der Nation" nach dem Zweiten Weltkrieg in den Hintergrund und er wurde dann primär als "großer Emanzipator" gesehen.

sueddeutsche.de: Lincoln gilt als "honest Abe", "als ehrlicher Abraham". Wie kam er zu diesem Spitznamen?

Nagler: Den bekam er als Anwalt in Springfield. Die Leute merkten schnell: Hier ist einer, der es ehrlich meint und absolut integer ist. Lincoln konnte aber auch tricksen und kultivierte seinen Ruf als "honest Abe".

Er selbst hat sich übrigens nie so bezeichnet, das überließ er anderen. Er war ein geschickter Pragmatiker und ein perfekter Netzwerker und pflegte auch das Image als etwas unbedarfter Prärie-Anwalt. So lockte er Intellektuelle aus der Reserve, die glaubten, sie hätten leichtes Spiel - und dann schlug Lincoln sie mit seinem messerscharfen Verstand und seiner Redekunst.

"Er war völlig erschöpft"

sueddeutsche.de: Gilt das auch für die tiefen Depressionen während seiner Präsidentschaft?

Nagler: Er konnte auch damit umgehen. Die Depression hat ihn jeden Morgen neu aufstehen lassen mit dem Credo: Diesen Tag werde ich auch schaffen. Die Willenskraft, die dahintersteckt, lag in seiner Natur, sie ermöglichte ihm seinen Aufstieg; und der Krieg hat ihn darin über sich selbst hinauswachsen lassen. Lincoln selbst hat einmal gesagt: Er, der nicht einmal ein Huhn erschießen könne, werde nun Präsident - und erlebe jeden Tag Tausende Tote.

sueddeutsche.de: Hat Lincoln auch direkt in den Amerikanischen Bürgerkrieg eingegriffen?

Nagler: Ja, zum Beispiel 1864. Damals fuhr er mit zwei Generälen bei Richmond an die Front und befehligte dort eine Aktion, die zur Einnahme einer Stadt am James River führte. Er war auch über jede Bewegung genau informiert.

Er verbrachte unendlich viel Zeit im Telegraphenamt - mehr als im Weißen Haus - und hat alle Neuigkeiten sofort aufgesogen. Er, der Autodidakt, machte sich binnen kürzester Zeit mit dem Militär vertraut. Nachdem er endlich den passenden General gefunden hatte, ließ er diesem allerdings ziemlich freie Hand und trug zum Schluss sogar den rücksichtslosen Zerstörungsfeldzug durch den Süden mit.

sueddeutsche.de: Das klingt anders als die üblichen Lincoln-Stories.

Nagler: Man ist schon ein wenig entsetzt, wenn man manches liest. Einmal spricht er kühl vom eigenen Menschenpotential, das größer sei als das des Südens; man könne also die verlustreichen Schlachten weiterführen und den Süden ausbluten lassen.

sueddeutsche.de: Wie sehr Lincoln der Krieg gesundheitlich zusetzte, kann man auch auf Fotos erkennen. Sein Gesicht zerfurcht, die Augen eingefallen, der Körper ausgemergelt. Obendrein plagten ihn angeblich Todesahnungen - Tatsache oder Legende?

Nagler: Es gibt einen Report, den ich auch in meinem Buch wiedergebe, bei dem man sicherlich vorsichtig sein muss. Ein alter Freund aus Illinois, sein Leibwächter, berichtete von einem Traum, den ihm Lincoln angeblich erzählt hat. Darin sah er sich aufgebahrt im Weißen Haus als Opfer eines Attentats. Ein anderer Traum, den er einen Tag vor dem Attentat hatte, ist von mehreren Seiten belegt: Darin nähert sich ein Schiff einer dunklen Küste.

sueddeutsche.de: Am 14. April 1865 wurde Lincoln angeschossen und erlag einen Tag später seinen Verletzungen. Der Attentäter hatte ungehindert zum Präsidenten gelangen können. Warum war Lincoln nicht besser geschützt?

Legendärer US-Präsident: Statue im Washingtoner Lincoln Memorial.

Statue im Washingtoner Lincoln Memorial.

(Foto: Mandel Ngan/AFP)

Nagler: Das ist eine gute Frage, schließlich hatte es ja bereits Attentatsversuche gegeben. Doch das Bewachtwerden war Lindoln lästig. Er stritt mit seinen Leibwächtern und trieb sie zur Verzweiflung. Manchmal ritt er anfangs seiner Präsidentschaft den Weg über die rund fünf Meilen zwischen der Sommerresidenz und dem Weißen Haus ohne Schutz alleine.

sueddeutsche.de: Hatte der psychisch und physisch angeschlagene Präsident so etwas wie Todessehnsucht?

Nagler: Er suchte sicherlich nicht den Märtyrertod. Unmittelbar vor der Ermordung sprach er sogar mit seiner Frau darüber, so glücklich wie seit Jahren nicht mehr zu sein - schließlich war der Krieg gerade zuende - und sich schon auf die Zeit nach seiner Präsidentschaft zu freuen. Aber der Kriegshorror hatte ihm massiv zugesetzt und über Jahre die Lebensfreude genommen.

Außerdem darf man nicht vergessen, dass er mittlerweile zwei seiner vier Söhne begraben und auch andere persönliche Schicksalsschläge hinter sich hatte. Er zitierte oft Shakespeare, den er ja sehr verehrte, und speziell Stellen zu Duncan aus Macbeth. Die Sehnsucht nach Ruhe war bei Lincoln sicherlich überstark.

Er war völlig erschöpft, heute würde man sagen ausgebrannt. Ob Ruhe im Leben oder im Tod - am Ende seiner Präsidentschaft scheint es Lincoln fast egal gewesen zu sein.

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