sueddeutsche.de: Sie wünschen sich mehr Begeisterung für das Land, auch mehr Patriotismus. Warum tun sich die Deutschen 20 Jahre nach der Wiedervereinigung und 65 Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft damit noch so schwer?
Einheitseuphorie vor dem Berliner Reichstagsgebäude am 3. Oktober 1990, 0 Uhr
(Foto: Regina Schmeken)Gauck: Ich leite den Verein Gegen das Vergessen - für Demokratie. Er wurde gegründet von Menschen, die nicht zuschauen wollten, wie rechte Chaoten wieder auf den Straßen herumlärmen, ohne dass Bürger dagegen etwas sagen. Sie finden hier Leute, die nie vergessen wollen, was Deutsche getan haben und wie wir Leid über uns und über andere gebracht haben. Wir wissen auch, was Schuld war. Aber Schuld ist eine personale Dimension. Sie unschuldigen Generationen anzuhängen, ist ein törichtes pädagogisches und politisches Unterfangen. Viele aus der Achtundsechziger-Bewegung - und ich habe mich dazu phasenweise gerechnet - haben das gemacht. Wir haben gedacht, wir sind politisch nur korrekt, wenn wir auch Schuld empfinden.
sueddeutsche.de: Sie haben stellvertretend gebüßt für Ihre Elterngeneration.
Gauck: Richtig. So etwas kommt vor und hat auch seinen Sinn. Aber das Ganze muss in einer vernünftigen Lebensform münden und nicht in einer neurotischen Beschwörung des Unvermögens. Also Katharsis statt neurotisch fixierter Bußfertigkeit. Wirkliche Trauer ist etwas anderes als eine vorgetragene Trauergesinnung. Schuld ist etwas anderes als ausgelebte Schuldgefühle. In der Post-68er-Zeit hat sich das Land vertieft mit den Lasten der Vergangenheit auseinandergesetzt. Das war wichtig. Wir konnten uns danach als Nation besser vertrauen, als wir uns nicht mehr selbst belogen haben.
sueddeutsche.de: Sind Sie gerne Deutscher?
Gauck: Ich bin ein Nachkriegskind und empfand damals eine große Fremdheit gegenüber der eigenen Nation. Ich wollte kein Deutscher sein. Ich fand das so schmutzig. Aber es wurden danach Kinder geboren, die heute erwachsen sind. Sie sind aufgewachsen in einem Land, das im Westteil 60 Jahre Freiheit, Bürgerrechte, Menschenrechte, Herrschaft des Rechtes und aggressionsfreie Außenpolitik erlebt hat. Alle diese Güter sind nicht geträumt. Sie sind real. Und der andere Teil Deutschlands hat sich die Freiheit vor 20 Jahren selbst erstritten und den schönsten Satz der deutschen Politikgeschichte gelebt: "Wir sind das Volk." Und dann spielen wir manchmal ganz gut Fußball und exportieren Druckmaschinen in die ganze Welt. Wann hatte die Nation eigentlich einmal so eine Phase? Warum, zum Kuckuck, wollen wir dazu nicht ja sagen?
sueddeutsche.de: Die Rechtsextremen kapern Begriffe wie Heimat, Nation oder den Stolz, ein Deutscher zu sein. Macht es das nicht unmöglich, die Begriffe demokratisch positiv zu besetzen?
Gauck: Wenn die das sagen, dann wird mir schlecht. Als das anfing, dass die Rechten mit diesen Begriffen hantierten, da habe ich vor Wut gezittert. Worauf die stolz sind, das hasse ich. Ich bin aber stolz auf das, was die hassen. Diesen Stolz müssen wir ihnen entgegensetzen.
sueddeutsche.de: Ist Stolz in Verbindung mit Nation überhaupt der richtige Begriff?
Gauck: Wollen wir dieses normale Gefühl den Bekloppten überlassen? Na, ich hoffe doch nicht! Stolz ist ein Gefühl, das schnell hinüberkippen kann in Arroganz, da muss man aufpassen. Wenn aber der Handwerker sein Produkt fehlerfrei hergestellt hat, wenn der Musiker am Ende eines Konzertes alle begeistert hat, dann empfindet er Stolz. Stolz ist ein natürliches Gefühl. Wir dürfen uns mögen, für das, was wir können. Auch dieses Land. Aber wir brauchen dafür die jüngere Generation. Meine Generation kann das nicht, weil wir sofort in den Verdacht geraten, Kryptofaschisten zu sein.