Interview mit Günter Wallraff:"Ich bin aus Fehlern zusammengesetzt"

Wenn man mir heute einen über den Schädel haut, dann war's das eben, sagt Günter Wallraff. Der Undercover-Journalist erzählt im SZ-Gespräch, was ihn antreibt, wieso es ihm an Selbstbewusstsein fehlt - und warum Jesus für ihn ein Vorbild ist.

Oliver Das Gupta

Günter Wallraff, Jahrgang 1942, ist der wohl bekannteste deutsche Enthüllungsjournalist. Seine Methode, sich incognito bei Konzernen einzuschleichen, um Missstände zu dokumentieren, prägte diese Form des investigativen Journalismus: Inzwischen steht dafür das Verb "wallraffen". Das folgende Gespräch fand in Hamburg statt.

Günter Wallraff dpa
(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Wallraff, haben Sie noch viele Geheimnisse?

Günter Wallraff: Nein. (Pause) Also gut, das, was ich gerade in Arbeit habe, die Informanten, die sich mir anvertrauen: Das sind absolute Geheimnisse. Da würde ich mich eher zerhacken lassen, als etwas zu sagen.

SZ: Sie sind also wieder undercover unterwegs?

Wallraff: Ja, aber jetzt habe ich ein paar Tage ausgesetzt. Mehr möchte ich nicht sagen.

SZ: Sind Sie eigentlich stolz auf Ihre Arbeit?

Wallraff: Ein Gefühl wie Stolz kenne ich nicht. Aber froh bin ich.

SZ: Würde es Sie freuen, wenn der Staat eines Tages sagte: Vielen Dank, Günter Wallraff?

Wallraff: Nach dem Erfolg von "Ganz unten" wurde ich mehrmals für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Die schrieben mich an und fragten nach meinen sonstigen Verdiensten. Ich habe nicht reagiert, denn ich finde, Orden stehen mir nicht.

SZ: Hegen Sie eine Antipathie gegen den Staat?

Wallraff: Nein, ich lehne den Staat nicht ab. Ich bin Bestandteil und Produkt dieser Gesellschaft und möchte hier weiter leben. Aber mein Verhältnis ist ambivalent. Ich schwanke zwischen Distanz und Nähe: Oft zieht es mich in die Ferne. Wenn ich längere Zeit weg bin, fühle ich mich sehr stark zurück gezogen.

SZ: Fühlen Sie sich in der Bundesrepublik heute wohler als vor 40 Jahren?

Wallraff: Die gesamtgesellschaftlichen Möglichkeiten haben sich deutlich verbessert. Es sind Schranken durchbrochen worden - Folgen der 68er-Bewegung, die ich eher positiv sehe, auch wenn es negative Seiten gab. Es sind Minderheitenrechte durchgesetzt worden, Kinderrechte, Frauenrechte. Sexuelle Orientierungen werden nicht mehr diskriminiert.

SZ: Gerichte haben immer wieder zu Ihren Gunsten entschieden, wenn Sie sich mit falscher Identität in einen Konzern eingeschlichen haben und anschließend angezeigt wurden. Nicht alle Enthüllungsjournalisten goutieren ihre Arbeitsweise. Für einige sind Sie eher ein Künstler.

Wallraff: Ich bin vieles und entziehe mich einer vordergründigen Etikettierung. So eine Arbeit, wie ich sie entwickelt habe, machen zu wenige. Nur: Es kann auch missbraucht werden, und zwar wenn es zum Selbstzweck wird.

SZ: Wo liegt die Grenze?

Wallraff: Dort, wo sie der Stärkere dem Schwächeren gegenüber anwendet, dort wo der private, der intime Bereich beginnt, da hat die Methode nichts zu suchen.

SZ: Haben Sie diese Grenze auch schon mal verletzt?

Wallraff: Ich habe über private Verfehlungen so manches gesteckt bekommen, auch über mächtige Prozessgegner. Ich hätte damit einige erledigen können - aber das war für mich absolut kein Thema.

SZ: Wie stehen Sie zur aktuellen Entwicklung um die Einschränkung der Grundrechte, Lausch- und Spähangriff, Vorratsdatenspeicherung?

Wallraff: Erschreckend! Innenminister Wolfgang Schäuble ist nicht korrupt, sondern meint, aus inbrünstiger Überzeugung, dem Staatswesen zu dienen - aber während der Inquisition war der Klerus genauso überzeugt, er würde dem göttlichen Recht zum Durchbruch verhelfen.

SZ: Telefonieren Sie denn noch sorglos?

Wallraff: Ich ignoriere das, ich mach mich nicht jeck. Nur wenn es um Informantenschutz geht, ist das anders.

"Ich kam mit vier Jahren ins Kinderheim - das war entsetzlich"

SZ: Zwischen Ihren alten und neuen Undercover-Recherchen lagen rund 20 Jahre - doch Sie sind nach wie vor erfolgreich. In der Zeit veröffentlichten Sie Reportagen über die Missstände in Call-Centern und Bäckereien für Billig-Brötchen, die großes Aufsehen erregten. Überraschte Sie das?

Wallraff: Völlig! Was ich mit diesen Anfängen - denn es gibt ja noch Steigerungen - was ich damit erreiche, das überrascht mich. Ich habe nicht im Entferntesten damit gerechnet. Auch nicht, dass die Zeit daraus eine Titelgeschichte macht. Und dann diese Wirkung. Wie wird das erst, wenn ich jetzt zu fundamentaleren Dingen komme. Das erschreckt mich ein bisschen.

SZ: Kommen Sie, Herr Wallraff, Sie wissen doch um die Wirkung Ihres Namens.

Wallraff: Nein, wirklich nicht. Ich bin absolut nicht von mir überzeugt.

SZ: Das ist zu bescheiden. Immerhin sorgen Sie seit Ende der sechziger Jahre für Furore. Unter anderem haben Sie den Türken Ali gegeben, der Deutschland von "ganz unten" erlebt, Sie demonstrierten 1974 gegen die damalige Diktatur in Griechenland und wurden daraufhin gefoltert, obendrein verhinderten Sie 1976 mit einer List vermutlich einen Putsch in Portugal. Inzwischen steht im Duden für Ihre Form der Recherche das Wort "wallraffen".

Wallraff: Diese Aktionen sind aber viele Jahre her. Aber jetzt war ich doch nicht für zwei Jahre in einer Rolle wie bei "Ganz unten". Und dann kommen zu Veranstaltungen plötzlich tausend Leute (schüttelt ungläubig den Kopf).

SZ: Sie sind eine Marke.

Wallraff: Zu meinem Berufskreis - Journalisten, Schriftsteller, Künstler - zählen zumeist Menschen, die ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein haben, manchmal sogar ein übertriebenes. Im Vergleich zu denen habe ich ein eher unterentwickeltes Selbstbewusstsein. Aber es reicht mir, ich kann damit leben. In meiner Jugend war das problematischer. Da musste ich mich fast entschuldigen, dass es mich gibt. Aber heute brauche ich mich nicht mehr zu verstecken.

SZ: Wie erklären Sie sich, dass es Ihnen so an Selbstsicherheit fehlt?

Wallraff: Wahrscheinlich diese Irritationen in der Kindheit. Das erste halbe Jahr war ich von der Mutter getrennt, sie hatte Kindbettfieber. Und dann kam ich mit viereinhalb Jahren ins Kinderheim zu den Nonnen. Das war entsetzlich. Die Klamotten wurden einem genommen, stattdessen bekam man Anstaltskleidung. Das war wie eine Entpersönlichung. Alle bekamen dann den gleichen Aussatz - Folge der Mangelernährung. Nur eines gab es im Überfluss: Marzipan.

SZ: Marzipan?

Wallraff: Ja, das kam von einer amerikanischen Fabrik über Care-Pakete. Ich konnte lange Zeit kein Marzipan mehr sehen. Aber das war nicht das Problem, sondern die Entfremdung. Ich war vor etlichen Jahren bei Horst Eberhard Richter mehrere Male in einer Gesprächstherapie. Dabei wurde mir zum ersten Mal bewusst: Es kann sein, dass ich deshalb die Fähigkeit habe, in fremde Rollen zu schlüpfen, um mich abermals zu entfremden - nur diesmal aktiv, indem ich es selbst steuern kann.

SZ: Das Leid im Heim hat Sie also traumatisiert - was hat Sie noch geprägt?

Wallraff: Ich glaube, dass durch diese Zeit auch immer wieder zwei zentrale Frauengestalten in meinem Leben eine Rolle spielen. Es gab damals unter den überforderten Nonnen eine dunkelhaarige, die die Neuankömmlinge bemutterte ...

SZ: Und die andere Figur?

Wallraff: Das war das Tor zur Freiheit, eine kühle Blonde - die Tochter des Verwalters. Mit der durften wir nicht spielen. Zu der habe ich immer wieder den Kontakt gesucht und habe es auch geschafft. Immer wieder verfiel ich diesen beiden Typen Frau.

SZ: Was haben Sie in Ihrer Schulzeit gemacht?

Wallraff: Das war die schlimmste Zeit meines Lebens, nicht in der Volksschule, sondern im Gymnasium, eine Paukschule. Ich war ein schlechter Schüler. Ich hatte Latein und Griechisch - dabei bin ich überhaupt nicht sprachbegabt. Ich habe dann irgendwann einfach abgeschaltet.

SZ: Wie haben Sie sich damals die Zukunft vorgestellt?

Wallraff: Ich konnte mir nie vorstellen, jemals so alt zu werden. Ich bin überrascht, dass ich inzwischen 65 bin.

SZ: Aber eine Vorstellung darüber, was Sie mal beruflich machen wollen, haben Sie vermutlich gehabt.

Wallraff: Meine Mutter hatte Existenzsorgen, war zu stolz, um Sozialhilfe anzunehmen und drohte mir mit Sätzen wie: Aus dir wird nichts. Höchstens Straßenkehrer. Dann dachte ich mir: Na, dann werde ich das halt. Ist doch auch ein vernünftiger Beruf, die werden doch gebraucht. Auch ein Grund für meine schlechten Schulleistungen war das Jobben als Zeitungsausträger. Drei bis fünf Stunden am Tag, ich hatte ein riesiges Revier. Und im Supermarkt habe ich auch gearbeitet. Damals wollte ich nur ausbrechen. Die Dunstglocke des nationalsozialistischen Massenmordes waberte noch über der gesamten Gesellschaft, da bekam man fast Erstickungsanfälle. Ich habe mich damals in die Literatur geflüchtet, und zwar in die abgründigste überhaupt.

SZ: Hatten Sie Freunde oder eine Clique?

Wallraff: Es gab ein paar, die sich mit mir an einer Zeitschrift versuchten, einer Flugschrift für Lyrik. In dieser Zeit habe ich mich auch an der Malerei versucht. Was heißt Malerei: Es waren mehr Verkrustungen. Irgendwann, ich glaube es war 1961, habe ich mal Max Ernst aufgelauert, als er eine Ausstellung eröffnete. Ich hatte meine mir wichtigen Werke unter den Arm geklemmt und zeigte sie ihm. Er lud mich ein nach Frankreich, weil er meine Sachen interessant fand.

SZ: Diese Bilder sind inzwischen sicher viel wert.

Wallraff: Ich hatte damals auch einige verkauft. Andere hatte ich blöderweise einem Freund geschenkt, der dann eine Galerie aufgemacht hat und damit begann, die zu verticken. Der brauchte Geld. Ich habe ihm dann zum Teil meine Sachen abgekauft. Einiges hab ich noch.

SZ: Und was sieht man da so drauf? Ist das an Max Ernst orientiert?

Wallraff: Nein, ich würde schon behaupten, dass das was Eigenes ist. (lacht) Es sind Verätzungen, Verbrennungen, Collagen.

SZ: Dann mussten Sie zur Bundeswehr ...

Wallraff: ... wo ich politisiert wurde.

SZ: Man notierte damals, Sie seien ein "Zersetzer" - und steckte Sie in die Psychiatrie.

Wallraff: Eine "abnorme Persönlichkeit, Tauglichkeitsgrad VI, untauglich für Frieden und Krieg", attestierten die mir. Und, Ironie der Geschichte: In Dresden entsteht ein Bundeswehr-Museum, in dem auch Skandale der Truppe dokumentiert werden sollen. Neulich trat eine Militärhistorikerin an mich heran, die auch meinen Fall thematisieren will. So kam ich an meine Akten ran. Wie mir da mitgespielt wurde! Meine damalige Freundin und ich hatten uns an einen Vertrauensarzt gewandt zur Paartherapie.

Und der wollte sich der Bundeswehr andienen für weitere Fälle - und schrieb ein vernichtendes Urteil über mich. Ich hätte ihm gegenüber geäußert, meine Mutter umbringen zu wollen. Dabei hatte ich ihm in ironischem Ton mit Blick auf Freud nur gesagt: Bei mir ist wohl ein Vatermord nicht angebracht, dann eher schon ein Muttermord. Und er schrieb wörtlich an den Oberstabsarzt: "Meine Meinung ist, dass die Bundeswehr bei ihm (G.W.) doch noch einiges erzieherisch nachholen kann. Eine Einordnung in die Gemeinschaft hat noch keinem geschadet. Im Übrigen vertrete ich die Auffassung, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, dazu beizutragen, sein Vaterland zu verteidigen. Das ist bis heute noch in jedem Kulturland üblich. Mit den besten Empfehlungen, Ihr sehr ergebener Dr. S."

"Meine Frauen haben mich alle ertragen"

SZ: Hat sich die Bundeswehr inzwischen nicht auch positiv gewandelt?

Wallraff: Da hat sich etliches getan. Zu meiner Zeit war sie durchsetzt von Nazis. Die heutige Bundeswehr sehe ich als weitgehend antimilitaristisch an.

SZ: Zurück zu Ihrer Biographie: Ihr Einstieg in die Dokumentar-Literatur und den Journalismus waren Ihre Industriereportagen in den sechziger Jahren. Wie kamen Sie dazu, diese kräftezehrenden Geschichten zu recherchieren?

Wallraff: Ich wollte mich einerseits einbringen und Erfahrungen am eigenen Leibe machen. Mir haben in den frühen sechziger Jahren die französischen Arbeiterpriester imponiert: Die sind in die Fabriken rein aus urchristlichen Motiven und wurden von Rom dann systematisch geächtet und einige von ihnen sogar exkommuniziert.

SZ: Wie halten Sie es überhaupt mit der Religion?

Wallraff: Ich bin christlich geprägt, und früh genug aus der katholischen Kirche ausgetreten. Der aktuelle Papstkult macht mich fassungslos. Dieser verknöcherte, frauenfeindliche und der Inquisition verpflichtete Mann ist doch therapiebedürftig. Dass der zum Popstar hochgejubelt wurde, ist unfassbar.

SZ: Nach ihren Vorbildern gefragt nannten Sie neben Gandhi und Martin Luther King auch Jesus Christus.

Wallraff: Jesus ist für mich nach wie vor eine der zentralen Gestalten der Menschheitsgeschichte. Er ist für mich allerdings nicht Gott, sondern einer, der die Konventionen seiner Zeit gesprengt hat und Feindesliebe predigte, als noch eine Rachegesellschaft herrschte.

SZ: War Ihnen bewusst, dass Sie mit Ihren Industriereportagen für eine journalistische Innovation sorgten?

Wallraff: Ein wohlwollender Kritiker meiner frühen Industriereportagen schrieb: Die ersten Menschen auf dem Mond hätten mehr über die Beschaffenheit des Mondes gewusst, als ich über die Verhältnisse in der Arbeitswelt. Das hatte Vor- und Nachteile. Ich war nicht von marxistischer Terminologie beeinflusst, ich konnte neu sehen lernen, ich konnte mich über Sachen aufregen, von denen andere sagten: Is' halt so. Mir war es möglich, einen neuen Ansatz zu finden, weil ich so wenig wusste. Ich hatte den fremden Blick und ich wirkte zunächst dort auch fremd. Die nannten mich anfangs den "Studenten" - dabei hatte ich nie studiert.

SZ: Sie schufteten bei Thyssen und beim Brötchenbäcker, Sie laufen obendrein noch Marathon und sausen auch mal bei Hochwasser im Kajak den Rhein hinunter. Brauchen Sie den ultimativen Kick?

Wallraff: Hmmm ... Könnte sein ...

SZ: Jüngere Leute machen Bungeejumping. Wäre das auch was für Sie?

Wallraff: Habe ich schon gemacht. Hatte ich mir zum Geburtstag gewünscht. Meine Frau wollte mich davon abhalten, weil ich damals Bandscheibenvorfälle hatte. Aber ich habe darauf bestanden.

SZ: Und von wo hüpften Sie runter?

Wallraff: Vom Kran. Normalerweise springt man und dann macht es so (fährt mit dem Finger gleichmäßig vertikal durch die Luft, hoch und runter). Nur blöderweise haben sie das Seil verwendet, an dem normalerweise Schwerere hängen. Deshalb endete mein Sprung so (lässt den Zeigefinger leicht hüpfend rotieren) Der Rücken war so gestaucht, dass ich gekrümmt nach Hause kam. Meine Frau sagte: Ich wusste es ja!

SZ: Was sagt denn überhaupt Ihre Frau zu Ihren nicht ungefährlichen Undercover-Aktivitäten?

Wallraff: Meine Frauen haben mich alle ertragen, lauter starke Persönlichkeiten, die selbständig sind.

SZ: Sie haben fünf Kinder. Was erzählen Sie denn denen?

Wallraff: Die freuen sich, wie ich da rumturne und ein anderer werde. Besonders die Jüngste, die Neunjährige: Die hat einen Riesenspaß, sie ist auch die wildeste. Die 15-Jährige ähnelt mir sehr stark: Ich war auch so verträumt in ihrem Alter. Und sportlich ist sie auch!

SZ: Sie haben zwei junge Töchter. Werden sie in der Schule auf ihren Vater angesprochen?

Wallraff: Ja, inzwischen positiv. Das war eine Zeitlang anders, als die Kampagnen liefen von Bild und anderen Blättern und sie mich zum "Untergrund-Kommunisten" machen wollten. Da sagten mitleidige Leute zu meiner Mutter Sätze wie: "Nehmen Sie sich das nicht so zu Herzen, die Eltern vom Andreas Baader können ja auch nichts dafür." Das schafft die Bild-Zeitung heute nicht mehr.

SZ: Warum sind Sie jetzt wieder in die Rolle von Menschen "ganz unten" geschlüpft?

Wallraff: Gesellschaftlich hat sich inzwischen wieder sehr viel verschlechtert. Ich musste wieder von vorne anfangen. Innerhalb der Betriebe sind selbstverständliche Rechte zum Teil abhanden gekommen. Da wird verhindert, einen Betriebsrat zu gründen, da werden Leute raus gemobbt. Es gibt Rechtsanwaltskanzleien die Tagungen abhalten zum Thema "Wie kündige ich Unkündbare". Das sind leider keine Ausnahmen mehr. Das liegt an dieser Gier, das Maximale aus Menschen herauszupressen.

SZ: Wo stehen Sie eigentlich politisch, Herr Wallraff?

Wallraff: Ich bin Wechselwähler, stehe den Grünen nahe. Und dem linken Flügel der SPD - aber gibt es den überhaupt noch?

SZ: Sagen Sie es uns.

Wallraff: Die SPD ist Konkursmasse. Schröder, Clement und Schily haben diese Partei in den Bankrott geführt. Und sie erwecken den Eindruck, dass Politiker allgemein käuflich sind - was ja nicht stimmt. Die drei sind die Totengräber der Sozialdemokratie. Sie haben hohe Werte, die die SPD ausmachten, verraten.

"Bei Lafontaine bin ich gespalten"

SZ: Kurt Beck geben Sie nicht die Schuld am Niedergang der SPD. Trotzdem ist er seit Monaten der Buh-Mann. Tut man ihm Unrecht?

Wallraff: Jemand, der von einer Meute gehetzt wird und zum Abschuss freigegeben ist, weil er angeblich für das Dilemma der SPD hauptverantwortlich ist, den muss ich geradezu in Schutz nehmen. Mir ist Beck, was seine sozialen Vorstellungen betrifft, allemal sympathischer als derjenige, der von Wirtschaftskreisen protegiert wird und denen als Kanzlerkandidat allemal willfähriger ist.

SZ: Sie sprechen von Frank-Walter Steinmeier. Was halten Sie vom übrigen politischen Spitzenpersonal der Republik? Zum Beispiel von Bundespräsident Köhler?

Wallraff: Ich kannte den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann persönlich. Was sein Demokratieverständnis angeht, konnte ihm kein Nachfolger auch nur annähernd das Wasser reichen. Man ist ja viel zu bescheiden geworden, wenn ich zum Beispiel an Herzog denke, dann erscheint mir Köhler geradezu sympathisch, obwohl er auch nicht mein Fall ist.

SZ: Und Kanzlerin Merkel, die nun wieder erklärt hat, die Reformpolitik der Schröder'schen Agenda 2010 fortsetzen zu wollen?

Wallraff: Wieder so ein Beispiel, wie ehemals positiv besetzte Begriffe entwertet werden. Reform bedeutete ursprünglich - soweit ich mich erinnere - etwas Fortschrittliches im Sinne von sozialer Verbesserung und ist nun als wohlfeile Floskel für gewaltigen sozialen Rückschritt inflationär missbraucht. An Merkel gefällt mir, dass sie im Gegensatz zu Schröder Regimegegner aus China und Russland empfängt und ermutigt und den Dalai Lama gegen heftigen Widerstand ebenfalls trifft. Ansonsten sehe ich Merkel als Vertreterin einer offensiv wirtschaftsliberalen Haltung, die selbst die schüchternen, aber notwendigen und für jedermann nachvollziehbaren sozialen Vorschläge ihres Parteifreundes Rüttgers diffamiert und abkanzelt.

SZ: So ähnlich dürfte das auch Oskar Lafontaine sehen. Was halten Sie von ihm und seiner Linkspartei?

Wallraff: Bei Lafontaine bin ich gespalten. Ich lernte ihn kennen und war mit ihm befreundet, als er sich als Oberbürgermeister von Saarbrücken persönlich sozial stark engagierte. Heute ist er mir zu sehr Stratege. Da kommen immer wieder dieselben Versatzstücke, da ist mir zu wenig Dialog.

SZ: Seine Partei scheint immer mehr gewählt zu werden.

Wallraff: Eine Oppositions-Linke um die zehn Prozent ist für eine Demokratie sicher förderlich, solange die anderen großen Parteien immer weniger unterscheidbar sind. Die Linke ist mir in einigem zu apparatschikhaft und die DDR-Nostalgie ist bei zu vielen Ost-Wählern immer noch stark verwurzelt.

SZ: So ähnlich klingt es auch bei CDU-Politikern.

Wallraff: Nicht alles, was CDU-Vertreter sagen, ist falsch. Ich verstehe mich gut mit Norbert Blüm und Heiner Geißler.

SZ: In den achtziger Jahren, als Geißler noch CDU-Generalsekretär war, sind Sie ziemlich hart aneinandergeraten.

Wallraff: Als Generalsekretär der CDU war Geißler noch ein knallharter Demagoge. Heute stimme ich politisch in vielen Dingen mit ihm überein. Leider sind solchen radikalen Demokraten und Querdenker, ich zähle auch Gerhart Baum von der FDP und Rudolf Dressler, SPD, dazu, in den Parteien eine aussterbende Gattung. Die austauschbaren und angepassten Parteisoldaten und Funktionäre sind doch inzwischen vorherrschend.

SZ: Geißler hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Haben Sie sich auch verändert?

Wallraff: Ich hoffe doch. Damals, zur Zeit des Kalten Krieges waren wir alle mehr oder weniger im Rechts-links-Schema verhaftet. Inzwischen löst sich dieses verkrampfte Lagerdenken glücklicherweise auf.

SZ: Halten Sie es auch für möglich, dass sich die Bild-Zeitung einmal ändern wird?

Wallraff: Wer lebt, sage nicht niemals! Wenn die Leser nicht mehr auf deren Maschen hereinfallen, dann kann es eine liberalere Boulevard-Presse geben. So wie die Münchner Abendzeitung. Da wo es Konkurrenz zu Bild gibt, sind die liberaleren Blätter sowieso stärker. Ich vergleiche das mit einer Drogentherapie: Bild ist Heroin, die Konkurrenz Ersatzstoff wie Metadon.

"Man muss Zeugnis ablegen"

SZ: Haben Sie sich mal überlegt, selber in die Politik zu gehen?

Wallraff: Nein.

SZ: Warum nicht?

Wallraff: Ich würde mich in Abhängigkeit begeben. Ich müsste Dinge aus Parteiräson unterstützen, die gegen meine Überzeugung sind. Also komme ich einem Parteiausschlussverfahren lieber durch Nichteintritt zuvor. (kichert)

SZ: Gab's denn mal Angebote?

Wallraff: Ja.

SZ: Von wem?

Wallraff: Von zwei Parteien, mehr sag ich nicht.

SZ: Haben Sie gezögert?

Wallraff: Nein.

SZ: Kein Wunder, dass die Politik Sie haben wollte. Man zählt Sie zu den wirkungsvollsten Schriftstellern der Republik.

Wallraff: Das kann ich nicht beurteilen.

SZ: Sie wurden schon in einem Atemzug mit Erich Maria Remarque genannt.

Wallraff: Ich wurde und werde so oft kritisiert, da lasse ich mir auch mal Lob gefallen. Aber was heißt schon wirkungsvoll?

SZ: Sie sagen selbst, dass Ihre Recherchen zu Verbesserungen geführt haben. Sind Sie mit sich zufrieden?

Wallraff: Das kann schon mal vorkommen. Ansonsten bin ich unvollkommen und aus Fehlern zusammengesetzt. Was ich mache, kann eigentlich nur einer machen, der unvollendet ist und alles in Frage stellt - auch sich selbst. Weil ich so wenig von mir selbst überzeugt war, fiel es mir leichter, mich in andere hinein versetzen zu können, insbesondere, wenn ihnen Unrecht angetan wird und sie wehrlos sind.

SZ: Hatten Sie Angst, als Ali bei Thyssen, als Reporter Hans Esser bei Bild oder beim Billig-Brötchenbäcker?

Wallraff: Ja, ich habe immer Angst, vorzeitig entdeckt zu werden. Während meiner Recherchen verfolgt es mich bis in meine Träume. Weil die ganze Arbeit zunichte gemacht werden könnte.

SZ: Fürchten Sie sich auch vor Schmerzen und Gefahren?

Wallraff: Ich habe keine Angst davor, dass mir was passiert. Wenn man mir heute einen über den Schädel haut, dann war's das eben. Heute ist jeder Tag ein Geschenk. Ich bin gesund - was ja nicht immer so war. Ich hatte massive Rückenprobleme.

SZ: Heute sind Sie doch wieder belastbar, wie Ihre kraftraubenden Einsätze zeigen. Wie entspannen Sie sich?

Wallraff: Beim Marathontraining, wenn ich zwei Stunden durch die Natur laufe. Oder zum Beispiel mit dem Kajak im Atlantik.

SZ: Wirkt sich Ihr Comeback als Undercover-Journalist sinnstiftend auf Ihr Leben aus?

Wallraff: Auch. Ich habe häufig Phasen, wo ich kein Land mehr sehe und weder ein noch aus weiß. Dann stürze ich mich in Arbeit - und schaffe mir sozusagen eine Existenzberechtigung.

SZ: Die Arbeit holt Günter Wallraff also raus. Ihre Kinder auch?

Wallraff: Auch, ja. (seufzt) Da habe ich noch Riesenversäumnisse.

SZ: Klingt nach schlechtem Gewissen.

Wallraff: Ja, auch. Aber seltsamerweise: Meine erwachsenen Kinder sind ihren eigenen Weg gegangen. Da war kein übermächtiger Vater im Hintergrund, das finde ich wichtig. Das liegt natürlich auch an den starken Müttern.

SZ: Herr Wallraff, Sie sind heute 65. Wollen Sie mit Ihren Recherchen niemals aufhören?

Wallraff: Was weiß ich denn, ob und wann ich mürbe werde? Solange ich die Kraft, Phantasie und den Spaß dabei habe, mache ich weiter.

SZ: Heute "wallraffen" Reporter selten. Sind die heutigen Journalisten zu feige für Undercover-Einsätze?

Wallraff: Ach, es ist nicht feige, sondern oft einfach phantasiearm. Es ist Beschränkt-Sein, es ist Angepasst-Sein.

SZ: Auch Angst?

Wallraff: Auch. Wenn jemand mit 20, 30 Jahren schon weiß, wo er mit 60 oder 70 stehen will.

SZ: Warum brauchen wir überhaupt die Wallraff-Methode?

Wallraff: Weil man manches an sich selbst erfahren, und unter Beweis stellen muss, damit die Leute es glauben und ernst nehmen. Man muss Zeugnis ablegen.

SZ: Zeugnis ablegen: Das ist ein Leitspruch der Quäker.

Wallraff: Wirklich?

SZ: Ja. "Bearing witness"

Wallraff: Interessant. (lacht) Da haben die dann wohl von mir abgeguckt.

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