Interview mit Claus Leggewie:"Occupy ist zu lieb"

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Was bleibt von Occupy Wall Street nach einem Jahr? Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie glaubt: Die Bewegung hat zu einem Stimmungswechsel beigetragen, war aber auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Im Gespräch erklärt er, welche strategischen Fehler die Aktivisten gemacht haben.

Oliver Das Gupta

Claus Leggewie, 62, ist Politikwissenschaftler und Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Leggewie berät die Bundesregierung als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen und fungiert als Herausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik. An diesem Montag will die Occupy-Bewegung die Börse in New York lahmlegen.

Occupy-Demonstranten am Wochenende in New York: Glas halb voll? (Foto: AP)

SZ.de: Herr Leggewie, vor einem Jahr begann die Occupy-Bewegung an der Wall Street. Was ist von dem Kapitalismus-Protest übrig?

Claus Leggewie: Wenig, behaupten die Pessimisten. Sie meinen, es habe sich daraus keine breitere Protestbewegung entwickelt, der Kasino-Kapitalismus bleibe ungerührt auf Kurs, die Banken machten weiter wie gehabt und würden von den Nationalstaaten noch gepäppelt. Kurz: Das große Bild habe sich nicht geändert.

Sie sehen das nicht so?

Ich neige dazu, das Glas halb voll zu sehen. Occupy steht nicht nur für sich. Occupy hat zu einem globalen Stimmungswechsel beigetragen, der vorher schon begonnen hatte und nach wie vor im Gange ist. Die gebildete Mittelschicht hat Sympathie für Occupy und verdammt die Ratingagenturen, sie glaubt nicht mehr blind an den Markt, selbst Klaus Engel, der Evonik-Chef klagt jetzt den "Raubtierkapitalismus" und das Kasino an und ruft nach mehr Staat. Bloße Rhetorik?

Welchen Anteil hat Occupy tatsächlich an der Kapitalismuskritik?

Wir sollten Occupy in historischem Kontext sehen, und nicht nur im Zeitraum eines Jahres. Von den siebziger Jahren bis in die jüngere Vergangenheit war das neoliberale Modell hegemonial. Nun ist es das nicht mehr.

Dank Occupy?

Die 68er haben die Welt auch nicht alleine verändert; die DDR-Bürger, die sich als kleines Fähnlein in der Zionskirche getroffen und das Neue Forum gegründet haben, haben die friedliche Revolution nicht ohne Gorbatschow herbeigeführt. Doch die Bilder, die sie erzeugt haben, wirkten in der Gesellschaft. Heute haben nicht wenige Menschen das Gefühl, dass Occupy schon seit Jahren läuft und nicht erst seit Herbst 2011. Es ist also weniger wichtig, was Occupy konkret auf der Straße gemacht hat, als die symbolische Bedeutung der Bewegung.

Occupy rollt heute nicht mehr kraftvoll durch die Straßen, vor einigen Wochen ist das verwahrloste Zelt-Camp in Frankfurt geräumt worden. Warum ist diese Form des Protests gescheitert?

Occupy ist wohl zu lieb.

Zu lieb?

Frühere Antikapitalisten waren weniger freundlich und hatten auch mehr programmatischen Tiefgang. Die Occupisten wirken zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

War es ein Fehler, dass es die Occupy-Aktivisten nicht geschafft haben, sich zu institutionalisieren? Hätte eine Occupy-Partei Sinn gemacht?

Kaum. Welche Probleme das Partei-Sein mit sich bringt, sieht man an den Piraten.

Sollte sich Occupy mit einer bestehenden Partei wie der Linken zusammentun?

Nein, so eine Vereinnahmung wäre kontraproduktiv. Aber die APO hat Allianzen mit den Gewerkschaften gesucht und stark in die Parteien hineingewirkt. Über so etwas denken die Occupisten offenbar nicht nach.

Worauf führen Sie das zurück?

Die Aktivisten der Occupy-Bewegung sind genau wie die Piraten Kinder der Zeit, in der sie groß geworden sind, der neoliberalen Hegemonie und des Internethypes. Viele von ihnen sind unter 35 und haben keine Großdemonstrationen erlebt, kennen wenig von Strategie, politischen Allianzen oder genossenschaftlicher Selbstorganisation. Ältere Protestformen sind in den neunziger Jahren massiv diskreditiert worden - durch die Ritualisierung dieser Protestformen selbst wie durch das neoliberale Gesellschaftsmodell. Eine antikapitalistische Bewegung, die so viel Sympathie genießt, müsste auch ein kritischeres Verhältnis zu den sozialen Medien entwickeln, die sie nutzt.

Der Occupy-Bewegung scheint inzwischen die Luft ausgegangen zu sein.

Vielleicht kommt noch was. Der kapitalismuskritische Protest wird in jedem Fall weitergehen, wenn vielleicht auch in einer anderen Form und unter einem anderen Namen. Die Occupy-Bewegung ist zu einem Türöffner geworden, es lässt sich in Deutschland leichter demonstrieren. Selbst privilegierte Gruppen wie die Ärzte und die Fluglotsen profitieren davon. Man darf vor allem nicht die brisante Tatsache verkennen, dass mit der globalen Zeltstadtbewegung junge Menschen aktiv geworden sind, die normalerweise zu den Privilegierten zählen, aber ins Prekariat verwiesen worden sind und jetzt den Misserfolg des hyperkapitalistischen Modells allen vorführen. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, liefert nicht mehr.

Joachim Gauck nannte die Proteste "albern". Hat er nicht teilweise recht?

Ich fand es komisch, dass sich die Occupisten ausgerechnet die EZB vornehmen, anstatt, dass sie die Deutsche Bank umzingeln. Aber unser Blick ist geprägt durch die 68er Bewegung und die Wende in der DDR. Es nützt nichts, wenn Occupy historische Beispiele kopiert. Die Zeltstädte sind längst eine eigene Protestmarke geworden. Totgesagte leben länger.

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