Vor zwei Wochen hat der selbsternannte Feldmarschall Khalifa Haftar mit seiner Libyschen Nationalarmee eine Offensive auf die Hauptstadt Tripolis gestartet. Dort hat die international anerkannte Regierung der Nationalen Übereinkunft ihren Sitz, unter Führung von Premierminister Fayez el-Serraj. Seit der umstrittenen Wahl im Jahr 2014 ist Libyen gespalten, Haftar ist der starke Mann im Osten des Landes.
Der Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin erklärt, was die neuen Gefechte um die Metropole für Libyen und Europa bedeuten - und warum Frankreich und Italien über den Konflikt streiten.
SZ: In Tripolis sind die Gefechte in den vergangenen Tagen immer härter geworden. Beide Seiten setzen schwere Artillerie ein, fliegen Luftangriffe. Inzwischen sind 180 Menschen getötet worden, es gibt Hunderte Verletzte. Auch Zivilisten werden zunehmend Opfer der Kämpfe. Steuert Libyen auf einen neuen Bürgerkrieg zu?
Wolfram Lacher: Das ist jetzt schon der Bürgerkrieg. Es gibt eine massive Mobilisierung im Westen Libyens gegen die Offensive von Khalifa Haftar. Und Haftar setzt alle Kräfte in diesem Konflikt ein, die ihm zur Verfügung stehen.
Eine Reihe von Ländern unterstützt Haftar. Andere stehen eher auf der Seite der international anerkannten Regierung von Premier Fayez al-Serraj.
Haftars Unterstützer sind bekannt. In erster Linie sind das die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten, in den vergangenen Jahren zunehmend aber auch Russland und Frankreich, und in der jüngsten Offensive offenbar auch Saudi-Arabien. Denn dieser Vorstoß auf Tripolis hat ja begonnen, kurz nachdem Haftar beim saudischen König Salman und Thronfolger Prinz Mohammed war. Es gibt Berichte, dass ihm dort Unterstützung zugesprochen wurde.
Auf der anderen Seite ist bisher noch nicht zu sehen, dass die international anerkannte Regierung oder die sie stützenden Milizen militärische Unterstützung von außen erhalten. Aber sobald deutlich wird, dass die Emirate oder andere Haftar direkt helfen, etwa mit Waffen, Drohnenschlägen oder Luftangriffen, dann ist auch zu erwarten, dass die Gegenseite Unterstützung etwa von der Türkei oder Katar erhalten könnte. Dann sehen wir fast unweigerlich dem Szenario eines sehr langen Stellvertreterkriegs entgegen. Wenn die Unterstützer Haftars und auch mögliche Unterstützer der Gegenseite den Konflikt nicht weiter anfachen würden, käme es möglicherweiser zu einer Niederlage Haftars.
Welche Folgen würde eine Niederlage des Generals nach sich ziehen?
Eine Niederlage Haftars hätte sehr weitreichende Folgen. Da würden sich dann im Osten alle möglichen Kräfte regen, die von Haftar unterdrückt worden sind, etwa die Autonomiebewegung. Und alles, was Haftar bislang kontrolliert im Osten und im Süden des Landes, die Ölfelder, all das wäre dann wieder umstritten. Neue Rivalitäten wären zu erwarten. Mit einer Niederlage Haftars wären die Konflikte in Libyen nicht vorbei. Aber es wäre das einzige Szenario, wie dieser Bürgerkrieg in Libyen relativ bald enden könnte. Denn es ist ausgeschlossen, dass seine Gegner schnell aufgeben. Die verteidigen ihre Städte und sind hoch motiviert. Aber es gibt erste Anzeichen dafür, dass Haftars Kräfte aus Ostlibyen durch mangelnde Fortschritte der Offensive und logistische Engpässe demoralisiert werden könnten. Dass sie sich zu fragen beginnen, warum sie eigentlich in Tripolis sind. Soldaten haben sich ergeben oder sind übergelaufen, im Osten regt sich erste Kritik an Haftar. Das macht eine politische Lösung aber auch so schwierig: Haftar weiß, dass eine Niederlage seine Position im Osten sehr schwächen würde. Deswegen wird er versuchen, um jeden Preis weiterzukämpfen.
Haftar gibt ja vor, Libyen von Islamisten und Dschihadisten befreien zu wollen und wirbt damit international um Unterstützung, nicht ohne Erfolg. Denn neben Ägypten und den Emiraten scheint auch Frankreich für dieses Argument zugänglich zu sein. Droht bei einer Niederlage Haftars nicht die Machtübernahme durch Islamisten oder gar eine Rückkehr der Terrormiliz Islamischer Staat?
Nein. Islamisten und Dschihadisten machen eine verschwindend geringe Minderheit der Kräfte aus, die jetzt in Tripolis gegen Haftar kämpfen. Was Dschihadisten betrifft, sind das vielleicht einige Dutzend unter mehreren Tausend Kämpfern.
Alle bewaffneten Kräfte in Libyen sind Milizen, auch die Truppen Haftars, die er als Nationalarmee bezeichnet. Viele sind in kriminelle Machenschaften verwickelt, und zwar auf beiden Seiten.
Die französische Regierung ist für Haftars Behauptungen nicht nur empfänglich, sondern versucht diese gezielt zu verbreiten und glaubwürdiger zu machen - und damit auch Haftars Krieg. Bislang sind diese Behauptungen abwegig. Aber wenn dieser Krieg Monate oder gar Jahre andauert, dann könnte er tatsächlich zu einem Magnet für Dschihadisten werden. Das hat man auch in früheren Konflikten in Libyen gesehen, die Haftar geführt hat, etwa die Schlacht um Bengasi.
Der UN-Sicherheitsrat oder auch die EU haben dazu aufgerufen, die Kampfhandlungen sofort einzustellen - bislang vergebens. Sehen Sie eine Bereitschaft der externen Mächte, auf die Konfliktparteien in Libyen einzuwirken?
Was westliche Regierungen tun könnten, vor allem die USA, aber auch die Europäer: auf die Regionalmächte einwirken, diesen Konflikt nicht weiter zu befeuern. Aber das Problem ist, dass es international noch immer sehr viel Uneinigkeit gibt. Im Prinzip müssten alle westlichen Regierungen ein Interesse haben, diesen Konflikt schnell beizulegen. Wie sie sich positionieren, hängt aber derzeit davon ab, wie sie Haftars Chancen einschätzen, Tripolis doch noch unter seine Kontrolle zu bringen. Westliche Regierungen und die UN sehen der Eskalation im Moment - wie schon in den Monaten zuvor im Süden des Landes - weitgehend tatenlos zu und treten Haftar nur mit leeren Worten entgegen. Starke Maßnahmen gegen die Konfliktparteien im UN-Sicherheitsrat werden wir nicht sehen. Wir werden keine Sanktionen gegen Haftar sehen. Er ist ja ganz eindeutig derjenige, der jetzt mit Sanktionen belegt werden müsste. Aber das ist wegen der Position Russlands und auch Frankreichs ausgeschlossen.
Italien wirft Frankreich vor, Haftar vor allem wegen Interessen des Energiekonzerns Total zu unterstützen. Italien war in Libyen bislang mit seinem Ölkonzern Eni der wichtigste westliche Akteur. Geht es letztlich nur um Öl und die Interessen europäischer Konzerne?
Ich glaube nicht, dass es sich in erster Linie um wirtschaftliche Konkurrenz handelt. Die unterschiedlichen Haltungen hängen wesentlich mit unterschiedlichen Sicherheitsinteressen in Libyen zusammen. Italien ist vor allem daran gelegen, Migration von Libyen über das Mittelmeer einzudämmen. Und dafür ist der Westen des Landes wichtig, der zumindest nominell unter Kontrolle der Einheitsregierung in Tripolis steht. Frankreich ist vor allem an der Stabilität in der Sahelzone und der dort mit ihnen verbündeten Staaten gelegen. Das erklärt zum größeren Teil die unterschiedlichen Positionen in Rom und Paris.
Premier Serraj hat gewarnt, es warteten in Libyen 800.000 Migranten auf die Überfahrt, und seine Regierung könne das nur verhindern, wenn sich Europa geschlossen hinter sie stelle. Halten Sie für realistisch, dass wegen der Kämpfe Hunderttausende über das Mittelmeer zu kommen versuchen?
Ich halte solche Warnungen für übertrieben. Das ist ein absurdes Echo der Taktik, die der Diktator Muammar al-Gaddafi immer verfolgt hat. Er drohte, dass Migranten von Libyen nach Europa kommen würden. Tatsache ist natürlich: Solange sich Libyen nicht stabilisiert, sondern im Gegenteil die Kämpfe eskalieren, werden sich die vielen ausländischen Arbeitskräfte auch aus dem subsaharischen Afrika schwertun, Beschäftigung zu finden - sie haben dann mehr Gründe, nach Europa zu kommen. Das gilt gerade, wenn es zu monatelangen Kämpfen um Tripolis kommt. In diesem Fall könnten auch viele Libyer sich zur Flucht gezwungen sehen. Das ist ein Großraum mit drei Millionen Menschen, also etwa der Hälfte der gesamten Bevölkerung in Libyen. Aber die Regierung von Serraj hat anders als Gaddafi nicht die Mittel, die Migration zu steuern oder gar zu stoppen.
Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin gilt international als einer der besten Kenner der verworrenen Lage in Libyen und der angrenzenden Sahel-Zone. Er hat Arabistik, Afrikanistik und Politikwissenschaft in Leipzig, Paris und Kairo studiert.