Süddeutsche Zeitung

Tag gegen Homophobie:"Das Coming-out ist nie zu Ende"

Markus Ulrich, Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes, erklärt, wie es um die Gleichberechtigung sexueller Minderheiten in Deutschland steht.

Interview von Cristina Marina

Am 17. Mai 1990 beschloss die Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Homosexualität von der Liste psychischer Erkrankungen zu streichen. Seitdem wird der 17. Mai als Internationaler Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie begangen. Auch in Deutschland, wo es seit vergangenem Herbst die "Ehe für alle" gibt. Kurz nach diesem Beschluss wurden auch die Gerichtsurteile aufgehoben, die auf Basis des Paragrafen 175 verhängt worden waren, der in der Bundesrepublik bis 1969 Homosexualität unter Strafe gestellt hatte. Doch wie gleichberechtigt gestaltet sich das Leben von Lesben und Schwulen in Deutschland heute wirklich? Ein Gespräch mit Markus Ulrich, dem Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD).

SZ: Herr Ulrich, wie weit sind wir hierzulande tatsächlich, was die Rechte Homosexueller anbetrifft?

Markus Ulrich: Es kommt darauf an, mit wem ich mich gerade vergleiche. Anders als in vielen Ländern der Welt können wir Fortschritte und auch eine gewisse alltägliche Akzeptanz verbuchen, die ein Leben als offen schwuler Mann oder lesbische Frau überhaupt erst möglich machen. Was in Deutschland allerdings fehlt, ist die rechtliche Anerkennung der geschlechtlichen Identität auch für trans- und intergeschlechtliche Menschen. Im Gegensatz zur Homosexualität gilt Transgeschlechtlichkeit in Deutschland nach wie vor als Krankheit. Doch neben der rechtlichen ist auch die gesellschaftliche Gleichstellung wichtig, auch wenn diese schwieriger zu messen ist: Wie offen und frei kann ich in der Gesellschaft und im Alltag leben?

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Wie hat sich seit 1990 die Wahrnehmung von Homosexualität in der Öffentlichkeit verändert?

Damals gab es kaum Lesben und Schwule in den Medien, weder Schauspielerinnen noch Politiker. Heute kennt jeder in Deutschland mindestens eine öffentliche Person, die homosexuell ist, auch wenn diese Sichtbarkeit natürlich noch weit davon entfernt ist, die gesellschaftliche Realität abzubilden. Diese Vorbilder haben im Laufe der Jahre vielen Lesben und Schwulen geholfen, sich als einen Teil der Gesellschaft zu begreifen und immer mehr für ihre eigenen Rechte einzustehen.

Hat die Homophobie seit dem Beschluss der WHO abgenommen?

Homophobie heißt, Homosexualität abzuwerten und wahlweise als Krankheit, Sünde, Ekel, als falsch oder widernatürlich zu begreifen - in jedem Fall aber als defizitär und nicht gewollt. Das alles trifft an vielen Stellen heute noch zu - das muss man leider klar sagen. Umdenken lässt sich nicht einfach per Gesetz verordnen. Gleichzeitig erleben wir in Deutschland - ähnlich wie in Ungarn und Polen - mit einer gewissen Partei als drittstärkster Kraft im Bundestag eine neue Tendenz, die sich vor allem in einer Sehnsucht nach den alten Zeiten manifestiert. Außerdem gibt es konservativ-fundamentalistische religiöse Strömungen, die zwar behaupten, dass sie niemanden diskriminieren, gleichzeitig aber deutlich vermitteln, dass sie Homosexualität verurteilen. Es stellt sich daher die Frage: Wie gesichert ist unser Fortschritt?

Wie leicht fällt es Homosexuellen heute in Deutschland, sich zu outen?

Die Erfahrungen sind extrem unterschiedlich und hängen von vielen Faktoren ab: ob ich in der Stadt oder auf dem Land lebe, alt oder jung bin, finanziell unabhängig oder nicht, oder ob ich aus einer religiösen Familie komme. Übrigens ist das Coming-out nie zu Ende, denn bei jeder neuen Begegnung kann ich es mir überlegen: Sage ich es oder sage ich es nicht? Wo lasse ich die Hand meines Freundes los, wo nicht? Allerdings kann die Diskriminierung, die ich erfahre, nicht nur Homophobie geschuldet sein, sondern beispielsweise auch Rassismus. Denn manche Lesben und Schwule sind vielleicht hierher geflüchtet, haben einen ausländisch klingenden Namen oder sehen angeblich nicht typisch deutsch aus.

Welche Diskriminierung ist die schlimmste?

Ganz klar: die konkrete Gewalterfahrung. Doch Homophobie oder Transfeindlichkeit macht auch Familien kaputt. Wenn man sich outet und dafür riskiert, mit der eigenen Familie zu brechen, können die Auswirkungen für den betroffenen Menschen hochgradig belastend sein. Denn die Familie sollte ja eigentlich ein Ort sein, an dem man Unterstützung erfährt, geliebt und angenommen wird.

Wie sieht es in der Arbeitswelt aus?

Es kommt auf das berufliche Umfeld an - und auf die Frage, wie offen ich überhaupt leben kann. Für Beschäftigte im Kirchenbereich oder von Einrichtungen religiöser Träger gilt beispielsweise das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nicht: Das Arbeitsrecht erlaubt dort, Bewerber nach bestimmten Moralvorstellungen auszuwählen, die beispielsweise eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft ausschließen. Ansonsten betreffen Lesben und Schwule ähnliche Themen, die Frauen oder anders Benachteiligte in der Arbeitswelt auch bewegen: Werde ich überhaupt zum Vorstellungsgespräch eingeladen? Habe ich die gleichen Aufstiegschancen? Sieht man sich etwa die Vorstände in Unternehmen an, ist die Zusammensetzung eher nicht vielfältig. Eine Studie des Deutschen Wirtschaftsinstituts kam auch zu dem Ergebnis, dass schwule Männer im Durchschnitt weniger verdienen als heterosexuelle.

Eine aktuelle Studie mit dem Namen "Out im Office" zeigt jedoch, dass immer mehr Menschen sich trotz der möglichen Diskriminierung auch am Arbeitsplatz mit ihrer sexuellen Identität outen, sei es mit dem Foto ihrer Partnerin oder ihres Partners auf dem Schreibtisch, im Small Talk darüber, mit wem sie in den Urlaub fahren oder wen sie zur Betriebsfeier mitbringen. Nichtsdestotrotz müssen Lesben und Schwule weiter mit Belästigungen, Beleidigungen, Mobbing und Diskrimierungen am Arbeitsplatz rechnen. Transgeschlechtliche Beschäftigte erleben noch häufiger Diskriminierung, also Kündigungen, Versetzungen oder verweigerte Einstellungen.

Haben es Homosexuelle in bestimmten Berufen besonders schwer?

Homophobie hängt oft mit engen Vorstellungen zusammen, wie Männer beziehungsweise Frauen angeblich zu sein oder auszusehen haben. In Berufsfeldern, die zum Beispiel sehr klar männlich assoziiert sind, etwa Armee oder Polizei, wird Schwulen immer noch oft abgesprochen, dafür geeignet zu sein. Ähnliches gilt für Frauen. Wenn die mit ihrem Auftreten oder Aussehen nicht den gängigen weiblichen Klischees entsprechen, also vermeintlich zu maskulin wirken, wird ihnen das zum Vorwurf gemacht.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Einerseits, dass die Politik dafür sorgt, dass alle Menschen ohne Angst und Diskriminierung verschieden sein dürfen, ohne mit diesem Wunsch aus einer Bittsteller-Position heraus zu handeln. Und andererseits, dass jeder seine eigenen Vorurteile hinterfragt und seine Mitmenschen genauso behandelt, wie man sich selbst auch wünscht, von seinen Mitmenschen behandelt zu werden.

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