Süddeutsche Zeitung

Spanien und Flüchtlinge:"Wir sind weniger anfällig für fremdenfeindliche Diskurse"

Die Flüchtlingsdebatte wird in Spanien deutlich ziviler geführt als in anderen EU-Ländern. Politikprofessor Vallespín erläutert, woran das liegt und welche Themen die Spanier deutlich mehr umtreiben.

Interview von Barbara Galaktionow

In der Flüchtlingsdebatte der vergangenen Jahre hat Spanien keine große Rolle gespielt. Doch weil Italien sich immer vehementer weigert, Flüchtlinge aus Afrika aufzunehmen - selbst ein Schiff der italienischen Küstenwache mit 177 geretteten Flüchtlingen an Bord darf auf Sizilien nur anlegen, nicht aber die Menschen von Bord lassen -, wird Spanien zum Zielland Nummer eins in Europa. Das sorgt für Unfrieden zwischen der sozialistischen PSOE-Regierung und den Parteien der Mitte-rechts-Opposition. Im Vergleich zu den fremdenfeindlichen, oft auch rassistischen Tönen in anderen EU-Staaten wird die Debatte hier jedoch weniger hart geführt. Woran das liegt und ob sich das jetzt ändern könnte, erklärt der Madrider Politik-Professor Fernando Vallespín.

SZ: Stehen die Spanier Flüchtlingen weniger voreingenommen gegenüber als andere Europäer?

Fernando Vallespín: Das stimmt grundsätzlich, denke ich. Aber eines möchte ich klarstellen: Das liegt nicht daran, dass die Spanier - und auch die Portugiesen, bei denen die Situation ähnlich ist - ein höheres moralisches Bewusstsein haben. Es liegt wohl daran, dass es auf der Iberischen Halbinsel keine xenophoben Parteien gibt. Wir haben keine extreme Rechte wie in anderen europäischen Staaten.

Woran liegt das?

Wir Spanier haben vier Jahrzehnte lang unter dem faschistischen Franco-Regime gelebt. Deswegen sind wir weniger anfällig für fremdenfeindliche Diskurse. Hinzu kommt, dass wir positive Erfahrungen mit Migration gemacht haben. Von ungefähr 1998 bis 2005 sind nach Spanien fünf Millionen Migranten eingereist. Die Mehrheit von ihnen kam aus Lateinamerika. Die meisten von ihnen zog es in die Großstädte. Auch wegen der kulturellen Ähnlichkeit haben sie sich gut integriert. Einen Plan für ihre Integration gab es allerdings nicht, es wurde improvisiert. Es kamen auch eine erhebliche Zahl von Marokkanern und Rumänen. Sie bilden derzeit die größten Einwanderergruppen. Und sie übernehmen meist Arbeiten, die Spanier nicht machen wollen, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Wir haben bislang allerdings auch relativ wenige muslimische Migranten. Ihre Zahl ist sehr niedrig, wenn man es mit anderen europäischen Ländern vergleicht, Frankreich, den Niederlanden oder Belgien. Das erleichtert die Integration.

Spanien hat sehr unter der Finanzkrise gelitten. Hat das die Sichtweise auf Migranten und Flüchtlinge negativ beeinflusst?

Im Gegenteil. Die Finanzkrise hat die Migrationsfrage für Spanien vielleicht sogar entschärft. Sie müssen bedenken: Die Krise dauerte zehn lange Jahre. Erst 2017 haben wir wieder das Bruttoinlandsprodukt von 2007 erreicht. Die Rezession war erheblich. In dieser Zeit sind viele Migranten in ihre Heimatländer zurückgekehrt, vor allem, wenn sie aus Lateinamerika kamen, weil sie keine Arbeit mehr in Spanien hatten. Das hat Druck rausgenommen, statt ihn aufzubauen, wie in anderen europäischen Ländern. Jetzt kommen viele frühere Einwanderer wieder zurück. Jetzt gibt es wieder Arbeit. Wir hatten nie den Eindruck, dass wir ein Migrationsproblem hatten.

Wenn man die letzten drei Jahre betrachtet, in denen besonders viele Flüchtlinge nach Europa kamen: Gibt es in Spanien nicht vielleicht auch deshalb weniger Vorbehalte, weil die frühere konservative Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy (PP) deutlich weniger Flüchtlinge aufgenommen hat als innerhalb der EU vereinbart?

Natürlich hängt sehr viel von den Zahlen ab. Derzeit ist es immer noch eher unpopulär, sich öffentlich allzu deutlich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen auszusprechen. Aber das kann sich ändern. Wir haben vermutlich noch nicht die Obergrenze für unsere Aufnahmefähigkeit erreicht. Derzeit ist die Zahl ankommender Flüchtlinge höher als im Vorjahr. Aber, um Merkel zu zitieren: Wir schaffen das. Doch wenn diese vielen Menschen, die vorher nach Griechenland und Italien kamen, plötzlich alle nach Spanien kommen, schaffen wir es vermutlich nicht mehr. Wir wissen nicht, wie die Bevölkerung reagieren würde, wenn wir ständig Bilder vor Augen hätten mit Schiffen voller Afrikaner, die in unsere Häfen einlaufen. Wenn am Ende der - sicherlich übertriebene - Eindruck einer Invasion entstünde, auch befeuert durch die Medien, wäre es nicht gut. Und das weiß eben auch die neue Opposition, also die Mitte-rechts-Parteien, der Partido Popular und Ciudadanos. Bei denen klingt jetzt ein neuer, populistischer Diskurs an, den es in anderen Ländern Europas schon gibt: Wir können nicht alle aufnehmen. Aber die Rechtskonservativen oder Liberalen müssen vorsichtig sein. Sie können nicht radikal gegen den öffentlichen katholischen Diskurs reden, der Flüchtlingen gegenüber sehr offen ist.

Aber Sie erwarten nicht, dass es in absehbarer Zeit eine neue rechtspopulistische Partei in Spanien gibt?

Es gibt natürlich die Möglichkeit einer Radikalisierung des Diskurses. Doch die rechtspopulistischen Parteien stürzen sich immer auf ein Thema. In Spanien ist das eine große Thema aber Katalonien. Da ist nicht viel Platz für andere Nuancen.

Der jetzige Regierungschef Pedro Sánchez (PSOE) hat bereits kurz nach dem Sturz seines Vorgängers Rajoy im Juni ein Zeichen gesetzt und das Rettungsschiff Aquarius in einem spanischen Hafen anlegen lassen. Inzwischen agiert die neue sozialistische Regierung aber verhaltener. Liegt es nur am Druck der Opposition oder ändert sich in Spanien die Stimmung gegenüber Flüchtlingen?

Es gibt in Madrid ein sozialwissenschaftliches Institut, das Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS) . Das geht jeden Monat der Frage nach: Was sind für Sie die drei größten Probleme Spaniens? Arbeitslosigkeit ist da immer die Nummer eins, darauf folgen Korruption sowie Politiker im Allgemeinen und Parteien. Die Katalonien-Frage stand im vergangenen Herbst auch sehr weit oben in dieser Liste, im Moment nicht mehr ganz so sehr. Und normalerweise lag Migration ziemlich am Ende bei etwa drei, vier Prozent - was für Europa wirklich eine riesige Ausnahme ist. Im Juli waren es dann plötzlich elf Prozent, was aber immer noch relativ gering ist. Die Stimmung hat sich also ein bisschen geändert. Aber man muss vorsichtig sein, denn sie kann schnell umschlagen. Die Regierung weiß das ganz genau. Den Sozialisten ist bewusst, wie riskant es sein kann, in dieser Frage als unbedarfte "Gutmenschen" dazustehen.

Wie sollte die Regierung sich denn verhalten?

Es gibt in Spanien einen Diskurs der Willkommenskultur. Doch die Aufnahme von Flüchtlingen und Einwanderern muss vernünftig umgesetzt werden, damit die öffentliche Meinung nicht kippt. Ich denke, Sánchez ist jetzt schon realistischer geworden. Wichtig ist auch, dass ihm innerhalb Spaniens der Interessenausgleich zwischen den autonomen Gemeinschaften (ähnlich den deutschen Bundesländern, Anm. der Red.) gelingt. Das südliche Andalusien, wo traditionell viele Migranten ankommen, kann nicht alle aufnehmen. Wie die Situation in Spanien sich entwickelt, hängt natürlich auch von der Verteilung ankommender Flüchtlinge und Migranten in der EU ab. Und es hängt davon ab, ob die EU mit den Maghreb-Staaten und vor allem mit Marokko eine gute Lösung findet. Marokko ist ein Schlüsselpartner. Das Land hat eine Scharnierfunktion. Dort hat man gesehen, wie viel Geld die Türkei für das Flüchtlingsabkommen bekommen hat, und nun möchten sie auch mehr Geld haben.

Wie geht es jetzt weiter in Spanien?

Ich denke, nach dem Sommer wird weniger über Flüchtlinge gesprochen werden. Das Thema wird nicht mehr im Zentrum stehen. Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer kommen, wird wetterbedingt abnehmen. Und das katalanische Problem wird wieder sehr viel wichtiger werden. Am 11. September ist der Nationalfeiertag in Katalonien. Am 1. Oktober ist der Jahrestag des Referendums.

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