Süddeutsche Zeitung

Interview am Morgen:"Die Sicherung der Außengrenze darf man niemals Populisten überlassen"

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, über die EU-Politik der möglichen neuen großen Koalition und Deutschland als Vorbild für eine liberale Gesellschaft.

Interview von Oliver Das Gupta

Michael Roth, Jahrgang 1970, ist geschäftsführender Staatsminister im Auswärtigen Amt und Beauftragter für die deutsch-französische Zusammenarbeit. In die SPD trat der Politologe aus Hessen schon als Schüler ein, inzwischen sitzt er im Parteivorstand. Roth leitete bei den Koalitionsverhandlungen die SPD-Arbeitsgruppe Kunst, Kultur, Kreativwirtschaft und Medien und war Teil der Arbeitsgruppe Europa.

SZ: Wenn die SPD-Basis dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zustimmt, wird Martin Schulz Bundesaußenminister - obwohl der doch noch im Wahlkampf gesagt hat, er wolle in ein Kabinett Merkel nicht eintreten. Was kann Schulz besser als Sigmar Gabriel?

Michael Roth: Beide sind leidenschaftliche Europäer, die ich schon lange kenne. Martin Schulz bringt zudem die jahrzehntelange Erfahrung auf der europäischen Ebene mit.

Sicher, für Schulz ist Europa das Thema, für das er besonders brennt. Aber kann man damit auch Ihre unruhige Partei besänftigen?

Die SPD sehnt sich nach Leuchtturmprojekten - Europa ist eines davon, für mich sogar das wichtigste. Wir wollen Deutschland in der Mitte Europas noch stärker verankern. Davor muss man keine Angst haben, schon gar nicht wir in Deutschland. Denn kaum ein anderes Land profitiert vom vereinten Europa stärker als wir, wirtschaftlich und politisch.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Was sind die Schwerpunkte der künftigen deutschen Europapolitik?

Wir wollen nicht nur an Symptomen herumdoktern, sondern streben wie der französische Präsident Emmanuel Macron grundlegende Erneuerungen an. Wir brauchen mehr sozialen Zusammenhalt in der EU, mehr Miteinander nicht nur in der Wirtschafts- und Währungsunion. Mit Frankreich zusammen wollen wir, dass möglichst viele neue Impulse bald zu gesamteuropäischen Projekten werden. Es geht vor allem darum, dass wir insgesamt handlungsfähiger werden und verbindlicher kooperieren. Das gilt für die Beschäftigungs- und Sozialpolitik genauso wie für die Wirtschaftspolitik.

Was meinen Sie damit konkret?

Zum Beispiel Mindestlohnregelungen. Die brauchen wir überall in Europa. Das gleiche gilt für Systeme der sozialen Grundsicherung. Wie das konkret aussieht, entscheiden die Regionen oder Mitgliedsstaaten am Ende eigenverantwortlich. Die EU leidet derzeit unter massiven sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichten. Das ist nicht nur ein Risiko für die Stabilität unserer Währung, sondern für die Stabilität der Demokratie. Inzwischen haben wir Sozialdemokraten eine Abkehr von der reinen Sparpolitik in der EU durchgesetzt. Stattdessen gibt es nun einen Dreiklang von sozial ausbalancierter Konsolidierung, Investitionen und Strukturreformen. Die noch ambitioniertere Fortsetzung dieses Dreiklangs findet sich in der Koalitionsvereinbarung wieder. Endlich!

In der EU rumort es, in den östlichen Mitgliedsstaaten erstarkt der Nationalismus, Großbritannien steigt aus. Was setzt Berlin künftig dagegen? Braucht es einen großen Wurf?

Es gibt in der europäischen Sozialdemokratie einen verständlichen Verdruss über eine zu unambitionierte Politik, die nur pragmatisch daherkommt. Der Wunsch nach visionärem Denken und mutigerem Handeln ist riesengroß. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Aufbruch und Pragmatismus. Und diese Balance werden wir nicht gegen, sondern nur mit Europa finden. Europa ist die Chance und kein Risiko für Progressive. Wir müssen den Menschen die Angst vor Europa nehmen. Wir dürfen das Nationale nicht gegen Europa ausspielen, es muss eine Versöhnung stattfinden. Nationalstaaten verlieren nichts durch Europa. Wir gewinnen hingegen durch ein handlungsfähigeres Europa politische Gestaltungskraft zurück.

Das hört sich ziemlich mühsam an.

Europa ist kein homogener Club. Da gibt es nicht nur eine bereichernde Vielfalt, leider auch ein poröser werdendes Grundverständnis davon, was uns eigentlich zusammenhält. Wenn man die Leute mitnehmen will, muss man positive Überzeugungsarbeit leisten. Wir sind vor allem eine Wertegemeinschaft, kein kaltherziger Wirtschaftsclub.

Wie soll denn Berlin positiv überzeugen?

Indem gerade wir Deutsche zeigen, dass liberale und offene Gesellschaften am Ende stärker sind als Gesellschaften, die intolerant und verschlossen sind. Außerdem muss man ein hochgefährliches "Spiel" beenden, das in allen nationalen Hauptstädten populär ist: Das Gute kommt aus Paris, Berlin und Budapest und das Schlechte von der vermeintlichen Monsterbürokratie aus Brüssel. Viele kommen mit der komplexer gewordenen Welt nicht zurecht und flüchten sich ins vertraute Nationale.

Wird sich die Haltung der Bundesregierung zum Thema Grenzsicherung in Europa ändern?

Als glühender Verfechter von Schengen bin ich gegen Zäune und Mauern in der EU. Aber Europas Außengrenzen sollen wir effektiv schützen, ohne uns abzuschotten. Wir müssen wissen, wer in die EU einreist und woher er kommt.

Deutschland ist von Schengen-Mitgliedern umgeben, die Sicherung der Außengrenzen bleibt an anderen Ländern wie Italien, Griechenland und Spanien hängen.

Deutschland hat sich über Jahre einen schlanken Fuß gemacht. Es ist eine Frage der Solidarität und Glaubwürdigkeit, die Sicherung der Außengrenze zur gemeinsamen Aufgabe in der EU zu machen. Das Thema darf man niemals Populisten und Nationalisten überlassen, die Zerrbilder zeichnen und Ängste bewusst schüren. Gerade für eine liberale Demokratie ist es immens wichtig, einen vermeintlichen Kontrollverlust zu vermeiden. Sonst haben wir wieder eine Situation wie 2015, als der Eindruck entstanden ist, der Staat wäre nicht mehr vollständig handlungsfähig.

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