Süddeutsche Zeitung

Interview am Morgen:"Die Bedrohung kommt für Juden von allen Seiten"

Lesezeit: 4 Min.

Demonstranten verbrennen in Berlin Davidsterne. Im "Interview am Morgen" spricht Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus darüber, warum sich Juden in Deutschland unsicher fühlen.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat angekündigt, die Botschaft seines Landes in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen und Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. In vielen Städten weltweit fanden danach antiisraelische Demonstrationen statt, auf denen die Teilnehmer antisemitische Parolen riefen. Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS), die antisemitische Übergriffe und Vorfälle in Deutschland sammelt, wundert das nicht. Er beobachtet, dass antisemitische Einstellungen in Deutschland weit verbreitet sind.

SZ: Herr Steinitz, in Berlin verbrennen Demonstranten Davidsterne vor dem Brandenburger Tor und rufen "Kindermörder Israel". Haben wir, wie es einige Politiker nun sagen, muslimischen Antisemitismus importiert?

Benjamin Steinitz: Ich finde es schwierig, von "importiertem Antisemitismus" zu sprechen. Das suggeriert nämlich, dass das Problem von außen kommt. Antisemitismus ist aber Teil der europäischen Kulturgeschichte, insbesondere der deutschen. Wer das bestreitet, leugnet die schlimmsten Verbrechen, die es je gegeben hat. Antisemitismus in Deutschland hat viele Ausdrucksformen. Der Kern ist häufig die Überzeugung, dass es eine jüdische Verschwörung gibt. Juden gelten als das ultimative Andere, das ultimative Böse.

Aber muslimischen Antisemitismus gibt es doch unbestreitbar?

Es gibt definitiv muslimischen Antisemitismus. Das Verbrennen von Flaggen, die lautstarken antiisraelischen Proteste, auf denen Teilnehmer antisemitische Parolen rufen, verunsichern Juden in ganz Europa massiv. Erst recht, weil es an einigen Orten ja nicht bei der Androhung von Gewalt blieb. In Göteborg haben mindestens zehn Personen Molotowcocktails in den Hof einer Synagoge geworfen, in der sich eine Gruppe Jugendlicher aufhielt. In Amsterdam hat ein Mann die Scheiben eines jüdischen Restaurants eingeschmissen und dabei die palästinensische Fahne geschwenkt. Das dürfen Politik und Zivilgesellschaft nicht dulden.

Wir hatten eine ähnliche Situation bereits im Sommer 2014. Damals waren die kriegerischen Auseinandersetzungen im Gazastreifen der Auslöser für Ausschreitungen weltweit. Dieses Mal scheint es sich um eine europaweite koordinierte Kampagne zu handeln, an der der Hamas beziehungsweise der globalen Muslimbruderschaft nahestehende Organisationen maßgeblichen Anteil haben. In Deutschland gibt es Indizien dafür, dass die Koordination zu großen Teilen auf die Palästinensische Gemeinschaft Deutschland (PGD e. V.) zurückgeht, die der Berliner Innensenat im Jahr 2014 als Organisation von Hamas-Anhängern und Anhängerinnen beschrieben hat.

Neben dem Antisemitismus im Kontext dieser antiisraelischen Mobilisierungen gibt es aber auch noch andere Formen in Deutschland, die den Alltag von Juden massiv beeinflussen. Zum Beispiel einen linken Antisemitismus, der sich einen antiimperialistischen Anstrich gibt, aber auch einen bürgerlichen, in der sozioökonomischen Mitte der Gesellschaft verankerten Antisemitismus.

Wie sieht der aus?

Uns hat in diesem Jahr ein Fall aus Leipzig besonders erschüttert. Ein Mann besuchte seinen Schilderungen zufolge in einem liberalen, bürgerlichen Stadtteil einen Hofflohmarkt. An einem Stand referierte ein anderer Besucher lautstark darüber, dass die Israelis das palästinensische Volk "ausrotten" wollten. Der Mann, der uns den Vorfall gemeldet hat, mischte sich in das Gespräch ein und fragte, ob das nicht eine unzulässige Dämonisierung Israels sei. Das artete sehr schnell in einen Streit aus, in dem der Satz fiel: "Mit der Holocaust-Keule brauchst du mir gar nicht zu kommen, an den Holocaust glaube ich schon lange nicht mehr."

Schockierend für den Betroffenen war nicht nur die Holocaust-Leugnung. Sondern, dass sich keiner der Anwesenden auf seine Seite schlug. Holocaust-Leugnung ist in Deutschland immerhin eine Straftat. Ein Anwesender fragte ihn später, ob er selbst Jude sei. Sein Vorname klinge so. Und ob er deswegen so emotional sei. Da wird ein schauriger Bodensatz von antisemitischen Einstellungen offenbar: Der Jude ist "der andere", er ist nicht Teil von uns und seine Probleme nicht unsere.

Wie nehmen die Menschen, mit denen Sie zu tun haben, insgesamt das Klima in Deutschland wahr?

Wir haben die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin 2015 gegründet, weil wir in Befragungen eine massive Verunsicherung jüdischer Menschen in Deutschland feststellten. Die Ausschreitungen im Sommer 2014 waren für viele Juden in Deutschland ein Wendepunkt. Sie beklagten die ausbleibende Reaktion der Zivilgesellschaft. Im Jahr 2000 zeigten nach einem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge mehr als 200 000 Menschen in Berlin ihre Solidarität und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder rief den "Aufstand der Anständigen" aus. 2014 organisierte der Zentralrat der Juden in Deutschland die größte Demonstration gegen Antisemitismus in Berlin selber, zu der dann gerade einmal 5000 Menschen kamen, die meisten waren Mitglieder jüdischer Gemeinden aus dem gesamten Bundesgebiet.

Dazu kommen Erlebnisse im privaten Umfeld: Wenn Bekannte verlangen, dass sich in Deutschland geborene Juden von der Politik Israels distanzieren, wenn schon ihre Kinder in der Schule im Unterricht erklären müssen, was "ihre" Regierung da eigentlich mit den Palästinensern macht. Antisemitismus dringt in den Alltag jüdischer Menschen in Deutschland ein. Auch der Einzug der AfD in den Bundestag war ein Schock für viele. Die AfD steht immerhin für eine Abkehr von der deutschen Erinnerungskultur. Das sind finsterste Positionen, die nicht nur Einzelne in der Partei vertreten.

Wie reagieren die Betroffenen auf diese Erlebnisse?

Viele geben sich nicht als Jude oder Jüdin zu erkennen. Sie meiden Stadtteile, in denen sie Übergriffe fürchten. Die Rückzugsstrategien betreffen auch ganz private Entscheidungen: Wie erziehe ich eigentlich meine Kinder? Was sage ich ihnen, wie sie in der Schule auftreten sollen? Sollen sie sich als Juden zu erkennen geben? Die Bedrohung kommt für Juden von allen Seiten, von rechts, von links, aus der Mitte der Gesellschaft und ja, auch von muslimischer Seite. Deswegen hat es unserer Ansicht nach auch keinen Sinn zu fragen: Welcher Antisemitismus ist eigentlich der schlimmste? Wir müssen alle Formen bekämpfen, weil alle Formen den Alltag von Jüdinnen und Juden prägen.

Wie könnte sich die Situation verbessern?

Immerhin hat es in diesem Jahr nicht so lange gedauert wie 2014, bis Politiker die Proteste und antisemitischen Parolen deutlich verurteilt haben. Wir hoffen sehr, dass auch die Zivilgesellschaft angesichts der jüngsten Vorfälle aktiv wird. Und wir dürfen natürlich auch nicht aus falsch verstandener Toleranz oder Angst vor Instrumentalisierung den muslimischen Antisemitismus verschweigen.

Eine ausführliche Einschätzung der RIAS zu den Hintergründen der aktuellen Ausschreitungen und möglichen Verantwortlichen finden Sie hier.

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