Deutschland hat einigen Einfluss auf Interpol, die internationale Polizeiorganisation mit Sitz im französischen Lyon. Als einer der wichtigsten Beitragszahler, als Aufseher im Europarat sowie als Herkunftsland von erstaunlich vielen Beamten auf allen Ebenen. Bis hinauf zum aktuellen Chef: Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock, 59, gebürtig in Wetzlar, war zuletzt lange beim Bundeskriminalamt. Auf ihn kommt es jetzt an.
Gerade ist Interpol gedemütigt worden wie noch keine zwischenstaatliche Organisation vor ihr: Die nominelle Nummer eins von Interpol, der Chinese Meng Hongwei, der als Präsident eine eher repräsentative Rolle innehat, ist in China offenbar von der Straße weg gekidnappt und in ein inoffizielles, "schwarzes" Gefängnis der Kommunistischen Partei verschleppt worden, wo er seither ohne rechtlichen Beistand verhört wird. Gegen ihn werde wegen Korruption ermittelt, teilte die "Disziplinkontrollkommission" der Kommunistischen Partei am Sonntagabend mit. Auf diese Nachricht hatte man gewartet. Auch bei Interpol. Der 64-jährige Meng wird bereits seit dem 25. September vermisst.
Doch vom deutschen Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock ist seither keine Silbe des Protests zu hören gewesen. Man nehme den "Rücktritt" Mengs an, erklärte Stock stattdessen in Lyon, nachdem am Sonntagabend eine kurze "Rücktrittserklärung" bei ihm einging. Angeblich hat Meng diese in Haft verfasst. "Medienberichte", wonach es Meng schlecht gehe, kenne man, hatte Interpol schon am Freitag erklärt. Man werde aber nicht selbst ermitteln. Interpol hat keine eigenen Polizeibefugnisse, man vermittelt nur zwischen Polizeibehörden weltweit. Der verschwundene chinesische Interpol-Präsident sei ein Fall für die französischen und die chinesischen Behörden. Und zur Beruhigung noch der Hinweis: "Jürgen Stock, der Interpol-Generalsekretär, ist in Vollzeit verantwortlich für die Führung der Organisation im Alltag." Die Arbeit gehe also weiter.
Es wirkt wie ein leicht grotesker Moment in der 95-jährigen Geschichte der internationalen Polizeiorganisation. Schon immer war Interpol ein Diener vieler Herren, der Staatengemeinschaft, zu der nicht nur Rechtsstaaten gehören. Schon immer erforderte das ein Maß an politischer Zurückhaltung. Interpol-Beamte müssen diplomatisch auftreten, wenn sie den Informationsaustausch mit Diktaturen aufrechterhalten wollen, und daran gibt es ein pragmatisches Interesse. Aber so viel demütiges Schweigen wie jetzt ist bemerkenswert. Ihrem eigenen Präsidenten kommen die Interpol-Beamten nicht vernehmlich zu Hilfe: Weder hat Generalsekretär Stock Zweifel an einem rechtswirksamen "Rücktritt" Mengs ausgesprochen. Noch hat er Kritik in Richtung Chinas geäußert. Das dortige Regime ließ Stock lediglich um "Auskunft" bitten.
Es war Mengs Ehefrau, die am Sonntagabend in Lyon vor Journalisten ihre Regierung kritisierte. Grace Meng zeigte eine Whatsapp-Nachricht ihres Mannes. Am 25. September, nach einer Flugreise Mengs von Lyon nach China, hatte er ihr geschrieben: "Warte auf meinen Anruf." Eine zweite Mitteilung habe lediglich aus einem Emoji bestanden, einem Bild eines Messers. Angeblich sei dies ein heimlich vereinbartes Zeichen gewesen, wenn Meng in Gefahr gerate. Danach riss der Kontakt ab.
In den zwei Jahren seiner Amtszeit bei Interpol hatte Meng sich oft in Lyon gezeigt. Das ist nicht selbstverständlich. Interpol-Präsident ist ein klangvoller Titel, der aber mit wenigen Pflichten einhergeht. Meng musste in Lyon Sitzungen leiten: dreimal im Jahr. Er musste eine Rede halten: einmal im Jahr. Meng hatte die Funktion ursprünglich nur als Nebenamt ausgeübt. Bis 2017 war er im Hauptamt stellvertretender Polizeiminister Chinas. Im vergangenen Jahr dann verlor er in Peking den Posten, womöglich fiel er in Ungnade. Dass er daraufhin mit seiner Frau nach Lyon zog, war bereits auffällig. Eine erste Absetzbewegung? Ein Versuch, sich und die Seinen in Sicherheit zu bringen?
Pekings Umgang mit Meng ist typisch dafür, wie innerparteiliche Auseinandersetzungen in jüngerer Zeit geführt werden. So macht es die Kommunistische Partei regelmäßig mit Kadern, denen sie Verfehlungen vorwirft: Zunächst verhört die Partei den Verdächtigen selbst, in ihren eigenen Haftgebäuden, ohne Kontakt zur Außenwelt. Dann erst übergibt sie ihn der Justiz. Der Verdächtige Meng habe "Bestechungsgelder angenommen", erklärte das Ministerium für öffentliche Sicherheit in Peking am Montag, man werde nun ein Verfahren gegen ihn vorantreiben.
Und die Antwort von Interpol? Nach den internen Regeln werde nun der dienstälteste Vizepräsident nachrücken, der Südkoreaner Kim Jong-yang, danach werde bei der regulären Vollversammlung aller 192 Mitgliedstaaten vom 18. bis 21. November in Dubai ein neuer Präsident gewählt werden. Eine Rückkehr zur Normalität. Die Presseerklärung von Sonntagabend endete schon nach drei Sätzen, und der letzte Satz war umso bemerkenswerter: "Das Interpol-Generalsekretariat, unter der Leitung von Generalsekretär Jürgen Stock, und seine nationalen Verbindungsbüros auf der ganzen Welt bleiben ihrer Mission verbunden: Unterstützung für Strafverfolger weltweit."