Internet:Der deutsche Offline-Herbst

Die Parteien haben nach der Wahl das Interesse am Internet verloren, ihre Websites sind grotesk veraltet. Dabei wäre schnelle, direkte Kommunikation gerade jetzt hilfreich.

Michael König, Berlin

"Sie ist spannend, manchmal auch ein bisschen verrückt, aber es ist mein Laden." So spricht Björn Böhning in einem Video über seine Partei, die SPD. Böhning war Direktkandidat für den Berliner Wahlbezirk Friedrichshain/Kreuzberg, und er ist wie die gesamte Partei bei der Bundestagswahl abgewatscht worden. Nur 16,7 Prozent der Erststimmen entfielen auf ihn, 46,8 Prozent auf den Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele.

Trotzdem wirbt die SPD auf ihrer Website mit Böhning um neue Mitglieder. Unter der Rubrik "Aktuelles" findet sich das Video, das offensichtlich im Wahlkampf aufgezeichnet wurde. In Anbetracht der Lage, in der sich die SPD derzeit befindet, möchte man Böhning uneingeschränkt recht geben. "Ein bisschen verrückt" - das trifft den Nagel auf den Kopf. Dass die Partei auf ihrer Internetseite so freimütig damit umgeht, ist dennoch verwunderlich.

Der Inhalt der Website ist geradezu grotesk veraltet: Unter der Rubrik "Sozial und Demokratisch" findet sich das Konterfei des gescheiterten Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier mit dem Aufruf "Am 27. September SPD wählen!".

Das ist kein Ruhmesblatt für eine Partei, die sich im Wahlkampf offen dazu bekannte, auf Barack Obamas Spuren zu wandeln und sich als Internetpartei Deutschlands positionierte. Aber die Sozialdemokraten sind nicht allein: Nahezu alle Parteien haben ihre Web-Aktivitäten nach der Wahl stark zurückgefahren. Jetzt, wo der Wähler seine Stimme abgegeben hat, scheint ihnen das Netz nicht mehr wichtig zu sein.

Die FDP versammelte ihre Anhänger im Wahlkampf in einer "Mitmach-Arena". Der öffentliche Kalender, der vor einigen Wochen noch vor Terminen strotzte, ist seit dem 27. September leer. Bei den Grünen war bis Ende vergangener Woche zu lesen, das Spitzen-Duo Renate Künast und Jürgen Trittin sei "zu seiner Tour vor der Bundestagswahl 2009 aufgebrochen".

Bei der CDU wird noch immer mit dem "Deutschland-Tag" geworben, Angela Merkels Wahlkampf-Zugfahrt am 15. September, als sie "im Schlafwagen" durch die Republik reiste, wie die Opposition spottete.

Auch das Facebook-Profil der Kanzlerin wirkt dieser Tage etwas verschlafen: Seit dem Wahlsonntag wurden dort drei neue Einträge veröffentlicht - in zweien ging es um die Deutsche Einheit, in dem dritten gratulierte Merkel dem Deutschen Gewerkschaftsbund zum 60-jährigen Bestehen. In der Woche vor der Wahl waren insgesamt neun Beiträge veröffentlicht worden.

Im Wahlkampf wurde den Parteien vorgehalten, den kommunikativen Grundgedanken des Internets zu ignorieren und es als "digitale Plakatwand" zu missbrauchen. Nach der Wahl werden die alten Plakate einfach hängen gelassen.

Auf der nächsten Seite: Die Koalitionsverhandlungen wären das perfekte Testfeld für Web-2.0-Technik in der Politik - doch Deutschland droht ein Offline-Herbst.

Ein ideales Testfeld

Dabei wären die derzeitigen Koalitionsverhandlungen ein "ideales Testfeld, um politische Alltagsroutinen auch nach dem Wahlkampf digital anzureichern", schreibt der Politikwissenschaftler Christoph Bieber von der Universität Gießen in einem Artikel im Autoren-Blog carta.info.

Bieber hält Web-2.0-Technologien wie Blogs und Twitter für geeignet, um den Gesprächen zwischen CDU/CSU und FDP ihren Hinterzimmer-Charakter zu nehmen. Er regt an, Zwischenstände der Verhandlungen per Kurznachrichtendienst Twitter zu verbreiten. Die Tagesergebnisse könnten gebündelt in einem Blog veröffentlicht werden.

Der "Spekulationswut der Hauptstadtmedien" wären damit Grenzen gesetzt, die "aktive Beeinflussung der öffentlichen Debatte" durch die Parteien weiterhin möglich, schreibt Bieber: "Wir werden sehen, ob das Web 2.0 nur einen Sommer lang politisch aufblühen durfte - und nun wieder ein typisch deutscher Offline-Herbst folgt."

Angesichts der Partei-Websites ist Letzteres wahrscheinlich. Dabei hatten zumindest in der Union führende Politiker Besserung versprochen: Bundeskanzlerin Merkel kündigte am Tag nach der Wahl auf einer Pressekonferenz an, traditionelle und moderne Wege der Kommunikation auf den Prüfstand zu stellen - womöglich sei es in Zukunft geboten, stärker auf das Internet zu setzen.

Ins gleiche Horn stieß Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust: "Wir müssen in der Kommunikation vor allem über die digitalen Kanäle noch besser werden", sagte das CDU-Präsidiumsmitglied. Die CDU habe zwar ihre Webseiten, "aber viele Diskussionen laufen ja eher in Foren, die wir alle kaum kennen."

Nachhilfe erhofft sich von Beust ausgerechnet von der Piratenpartei, die im Wahlkampf mit Internet-Kritik und lauten Yeah-Rufen die CDU zu stören versuchte: "Wir können von den Piraten durchaus etwas lernen." Was genau, wusste von Beust nicht zu sagen.

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