Süddeutsche Zeitung

Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag:Zeugin 536 in Angst

Mit dem Alias "Zeugin 536" wollte der Strafgerichtshof in Den Haag die Frau schützen, die gegen Kenias Vizepräsidenten aussagt. Doch dann veröffentlichte jemand ihren mutmaßlichen Namen, zusammen mit einem Foto. Der Fall zeigt: Wer vor dem Gericht aussagt, riskiert sein Leben.

Von Tobias Zick

Ihr Gesicht und ihre Stimme waren elektronisch verzerrt, als sie schilderte, wie der Krieg in ihr Dorf gekommen war. Die Angreifer seien zu Hunderten auf die Kirche zugestürmt, in der sich die Opfer verschanzt hatten. Einen Greis, der zu flüchten versuchte, hätten sie zu Tode gehackt. Sie hätten das Gotteshaus angezündet, 30 Menschen seien darin lebendig verbrannt.

Nach dieser Schilderung brach Zeugin 536 schluchzend zusammen. Die Frau, deren Name geheim bleiben sollte, sagt im Prozess gegen Kenias Vizepräsidenten William Ruto aus, der ebenso wie sein Chef Uhuru Kenyatta vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt ist. Ruto soll 2007/2008 blutige Unruhen geschürt haben.

Mit dem Alias "Zeugin 536" wollte das Gericht die Frau und ihre Familie schützen. Doch am Mittwoch hat der Betreiber einer kenianischen Internetseite den mutmaßlichen Namen der Zeugin öffentlich gemacht, zusammen mit einem Foto. Daraufhin brach los, was gemeinhin "Shitstorm" genannt wird, in Leserkommentaren wurde die Frau als "Lügnerin" beschimpft. Ein möglicherweise gefährlicher Präzedenzfall für den Internationalen Strafgerichtshof.

Wenn Zeugen sich künftig nicht mehr sicher fühlen können, macht das die Arbeit des Tribunals, das weltweit Verbrechen von Politikern gegen die eigene Bevölkerung ahnden soll, schwieriger, als sie ohnehin schon ist.

Eine Sprecherin der kenianischen Menschenrechtskommission befürchtet denn auch, die Preisgabe des Namens könne andere Zeugen verunsichern. Es werde "schwierig werden, ihnen zu versichern, dass sie und ihre Familien wirklich geschützt sind". Schon vor Prozessbeginn hatte Chefanklägerin Fatou Bensouda beklagt, nirgends habe es bisher einen solchen Druck auf Zeugen gegeben wie in Kenia. Mehrere wurden schon ins Ausland in Sicherheit gebracht, einige haben bereits ihre Aussagen zurückgezogen.

Vollkommene Anonymisierung ist nicht möglich

Ohne den Mut der Zeugen wäre ein solcher Prozess gar nicht möglich. Deshalb möchte der Internationale Strafgerichtshof die Menschen schützen. Die Ankläger sprechen ihre Zeugen im Gerichtssaal nur mit Nummern an, sie sind hinter einer Milchglasscheibe versteckt. Bei allen Fragen, die direkt die Person des Zeugen betreffen, ist die Öffentlichkeit auszuschließen. Vollkommene Anonymisierung allerdings ist rechtlich nicht möglich, deshalb müssen zumindest auf den gerichtsinternen Dokumenten die echten Namen der Zeugen stehen. Die Verteidiger versichern per Ehrenwort, dass sie diese nicht öffentlich machen - eine offenkundige Schwachstelle.

Zeugin 536 könnte jedoch, so vermuten manche Beobachter, allein schon anhand von Details ihrer Aussage identifizierbar geworden sein. Der Vorsitzende Richter Chile Eboe-Osuji hat nun erklärt, die Offenlegung der Identität von Zeugen oder deren Angehörigen sei eine Straftat und werde vom Gericht geahndet - "in Kenia und überall auf der Welt".

In Kenia werden künftige Prozesse ohnehin schwierig. Eine Mehrheit der Abgeordneten im Parlament in Nairobi hat kürzlich für einen Austritt des Landes aus dem Statut gestimmt, das dem Internationalen Strafgerichtshof zugrunde liegt. Bereits laufende Verfahren wie das gegen Ruto und Kenyatta sind davon allerdings nicht berührt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1775585
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.09.2013/sana
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.