An den Ufern des Wannsees südlich von Berlin lag die Zentrale des internationalen Kriminalpolizei-Vereins Interpol bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Nazis hatten sich diese Organisation mit ihren wertvollen Aktenbeständen untertan gemacht, um nach Gegnern zu fahnden, und verschiedene SS-Chargen einschließlich zeitweise des "Reichsführers" Reinhard Heydrich hatten sie geleitet.
Selbst nach dem Krieg, als Interpol nach Frankreich verlegt wurde, blieb es eine ziemliche affai re allemande: Man hörte viel Deutsch in der Kantine, und noch 1968 wurde Paul Dickopf, einst SS-Offizier unter Heydrich, zum Präsidenten.
Solche Figuren sind zwar ausgestorben. Die NS-Kontinuitäten wurden in den Achtzigerjahren abgebrochen. Aber Deutschland, daran muss man in diesen Tagen erinnern, in denen der deutsche Schriftsteller Doğan Akhanlı erlebt, wie Interpol sich bereitwillig zum Verstärker für die Hetzrufe des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegen Regimegegner wie ihn machen lässt - Deutschland ist bis heute kein Interpol-Mitglied wie jedes andere.
Deutschland hat respektablen Einfluss dort, als einer der wichtigsten Beitragszahler, als Aufseher im Europarat sowie als Herkunftsland von bis heute erstaunlich vielen Beamten auf allen Ebenen bis hinauf zum Chef: Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock, gebürtig in Wetzlar, zuletzt lange beim Bundeskriminalamt.
Deutschland hätte es in der Hand, den türkischen Spuk einzuhegen
Deutschland zieht auch großen Nutzen. Die hiesigen Ermittler wissen, was ihnen der internationale Informationsaustausch wert ist, sie lassen etwa 300 Mal im Monat jemanden zur Interpol-Fahndung ausschreiben, sie gehören damit zu den besten Kunden der Organisation weltweit.
Und Deutschland hätte es in der Hand, den derzeitigen Spuk bei Interpol deutlich einzuhegen, der noch lange nicht vorbei ist. Zwar darf der Kölner Akhanlı darauf hoffen, in dieser Woche nach Köln zurückzukehren. Spaniens Justiz hat elend lange gebraucht, um zu dem Schluss zu kommen, dass Ankaras Vorwürfe gegen ihn jedenfalls so umstritten und von Politischem untrennbar sind, dass man sie sich besser nicht zu eigen macht. Ankaras Fahndungsaufruf, den Interpol ungeprüft um die Welt geschickt hatte, hätte so nie verschickt werden dürfen.
Aber der Erdoğan-kritische Journalist Can Dündar, der seit Juli 2016 in Deutschland lebt, steht weiter in dieser Gefahr. Gegen ihn ist noch immer ein weltweiter Interpol-Fahndungsaufruf ("red notice") aus Ankara anhängig, noch immer ist dieser nicht gestoppt worden.
So muss Dündar fürchten, dass es ihm ergeht wie Akhanlı. Auf der Frankfurter Buchmesse konnte er sich frei bewegen. Ein Spanienurlaub wäre schon gefährlich.
Deutschland könnte helfen. Entweder, indem es die Ressourcen von Interpol endlich sehr viel deutlicher auf rechtsstaatliche Prüfungen verwenden lässt. Theoretisch hätte Interpol längst den Auftrag, Missbrauch durch Staaten wie die Türkei auszufiltern; das Interpol-System darf nicht für politische Verfolgung benutzt werden. Praktisch sind für dieses Ausfiltern kaum Leute abgestellt. Von 700 Mitarbeitern sind es vielleicht 30.
Eine Verfünffachung dieser Anstrengungen, das wäre mindestens so sinnvoll wie der Aufbau einer Interpol-Taskforce, um gestohlene Fahrzeuge aus europäischen Ländern aufzuspüren; ein Projekt, für das sich Deutschland stark einsetzt. Seltsame Prioritäten.
Oder, einfacher: Deutschland könnte es sich zur Angewohnheit machen, Interpol nicht nur mit Fahndungsersuchen zu füttern, sondern auch mit Hinweisen, wenn hierzulande Menschen ins Visier politischer Verfolger etwa der Türkei geraten sind. Der deutsche Staat könnte sich sicher sein, Gehör zu finden. Anders als die Individuen Akhanlı oder Dündar.