Intendant der Münchner Kammerspiele:"Wie sehr wir uns von Frau Merkel einlullen lassen"

Matthias Lilienthal

Matthias Lilienthal im Aufzug: Der neue Intendant der Münchner Kammerspiele verweigert die großen Gesten.

(Foto: Christian Kleiner)

Machen statt "merkeln": Matthias Lilienthal ist Til Schweiger dankbar, weil er seine Fans verwirrt - und fragt sich, ob die Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage einen Rückzieher macht.

Von Karin Janker

merkeln

"Merkeln": In der Auswahl zum Jugendwort des Jahres.

(Foto: Grafik: SZ.de; Quelle: jugendwort.de)

SZ: Herr Lilienthal, waren Sie in den vergangenen Tagen mal am Münchner Hauptbahnhof, wo sich ergreifende Szenen abgespielt haben, als binnen weniger Stunden Tausende Flüchtende ankamen?

Matthias Lilienthal: Ja, ich war dort. Und ich bin extrem beeindruckt von der Hilfsbereitschaft in München. Das ist so großartig! Die Berliner rennen nicht einfach mit Hilfsgütern los. Auch darum freue ich mich auf meine Zeit hier am Theater.

Sie sagen, die Kammerspiele sollen ein "Gegenüber" der Stadt werden - mit dem man auch streiten kann. Wie wollen Sie in die Gesellschaft hineinwirken?

Um streiten zu können, braucht man die Möglichkeit, Dissens offen auszutragen. Dafür kann Theater eine Plattform sein. Wir wirken über die Produktionen und Regisseure, die wir hierher holen. Zum Start der Spielzeit haben wir die arabische Produktion "Ode to Joy" von Rabih Mroué. Es gibt die "Welt-Klimakonferenz" der Gruppe Rimini Protokoll, ein interaktives Projekt, bei dem die Zuschauer die Mechanismen von Politik durchschauen lernen, indem sie selbst an einer Klimakonferenz teilnehmen. Sie sehen dann, dass es gar nicht darum geht, die Temperatur um zwei Grad zu senken, sondern um finanzielle Regulierung. Und wir gehen hinaus in die Stadt, sitzen in Podiumsdiskussionen und mischen uns ein.

Zur Person:

geboren 1959 in Berlin, Studium der Geschichte, Theaterwissenschaft und Germanistik (abgebrochen), 2003 bis 2012 Leiter des Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin, seit September 2015 Intendant der Münchner Kammerspiele

Erfolgreich eingemischt haben Sie sich bereits beim Münchner Flüchtlingshaus Bellevue di Monaco, das nun in der Müllerstraße entsteht. Was bewirken solche Einzelprojekte?

Das Bellevue hat in München große Diskussionen ausgelöst, das ging über mehrere Verhandlungsrunden und die Öffentlichkeit hat den ganzen Prozess mitbekommen. Die treibende Kraft waren andere - dass sich eine Institution wie die Kammerspiele an dem Projekt beteiligt, brachte vielleicht 0,1 Prozent Rückenwind. Ich glaube aber, dass es in Gesellschaften Entscheidungssituationen gibt, in denen partielle Verschiebungen möglich sind. Solche Projekte können den Menschen Mut machen, sich zu engagieren.

Sie glauben an die Macht der Zivilgesellschaft?

Ich glaube an eine Beeinflussbarkeit von Dingen. Ich denke nicht, dass es egal ist, wer an der Regierung ist. Was man gemeinhin über Politiker denkt, stimmt jedoch nicht. Politiker sind keine Menschen mit Idealen - das ist Kitsch. Im besten Fall sind Politiker merkwürdige Seismografen, die Erdbeben innerhalb ihrer Wählerschaft aufnehmen und daraus pragmatische Kompromisse herstellen. Es geht ihnen nicht darum, ihre Überzeugungen zu vertreten.

"Journalistisches" Theater:

Lilienthal sieht seine Aufgabe darin, Themen aufzuspüren und zu besetzen, er inszeniert nicht selbst, sondern schafft Arbeitsmöglichkeiten für andere Künstler, seine Arbeitsweise nennt er selbst "journalistisch"

"Til Schweiger - das Rambo-Ideal der Law-and-Order-Menschen"

Vor kurzem bekundete Schauspieler Til Schweiger öffentlich, eine Unterkunft für Geflüchtete bauen zu wollen. Auch ein beispielhaftes Projekt?

Ich finde es großartig, wie plötzlich Til Schweiger - das Rambo-Ideal der Law-and-Order-Menschen - für Verwirrung sorgt und seine Fans mit seinem Lobbying für Flüchtlinge überrascht. Ob er das Haus letzten Endes bauen kann oder nicht, ist mir fast wurscht. Dafür, dass Menschen, die Til Schweiger gut finden, aber Flüchtlinge vielleicht nicht, jetzt verwirrt sind, bin ich ihm unendlich dankbar.

Einzelnen Engagierten steht eine satte Mittelschicht gegenüber, die mehr oder weniger zufrieden auf die Politik der großen Koalition blickt.

Ich interessiere mich von jeher eher wenig für die Satten. Ich finde, wir könnten unsere Ansprüche an die Gesellschaft, in der wir leben wollen, ruhig etwas höher schrauben. An eine Gesellschaft, die uns Spaß macht. Wie sehr wir uns von Frau Merkel einlullen lassen! Wir haben eigentlich genug Probleme, die wir angehen sollten. "Merkeln" liegt nicht zufällig vorne bei der Wahl zum Jugendwort des Jahres. Es beschreibt treffend die Fähigkeit, jegliche Diskussion überflüssig zu machen.

Frau Merkel wird aber gerade von der internationalen Presse derzeit sehr gelobt für ihren Einsatz für Flüchtlinge. Ein Grund, stolz auf Deutschland und die Bundesregierung zu sein?

Stolz bin ich darauf nicht - ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit angesichts der momentanen Lage. Andererseits wird das Land das so nicht auf Dauer durchhalten, wenn jeden Tag Tausende Flüchtlinge ankommen. Das ist das erste Mal seit langem, dass Merkel mit ihrer Taktik des Aussitzens nicht weiterkommen wird. Sie muss entweder eine gesamteuropäische Lösung durchdrücken oder einen Rückzieher machen. Jetzt steht sie vor einer echten Herausforderung - und darüber freue ich mich.

Münchner Kammerspiele:

Sie gelten als eines der bedeutendsten Sprechtheater Deutschlands - Lilienthal will, dass die Kammerspiele "ein hervorragendes Sprechtheater und eine gute Off-Bude" sind. Die Spielzeit 2015/16 startet mit dem Projekt Shabbyshabby Apartments und einem Vortrag von Niklas Maak über das Leben in der Stadt.

Sie bezeichnen sich selbst als jemanden, der pöbelnd in der dritten Reihe sitzt. Vor und nach Ihren Auftritten verschwinden Sie gerne im Publikum vor der Bühne. Was finden Sie dort?

Ich fühle mich im Inneren immer noch als Teil einer studentischen Szene, auch wenn ich mich manchmal zwangsweise daran erinnern muss, dass ich jetzt objektiv Teil der oberen Bourgeoisie geworden bin. Ich suche also vor allem einen kollektiven Assoziationsraum. Ich will wissen, wie die Leute ticken.

Ein Theatermacher ist also auch Seismograf, ähnlich wie Politiker?

Ja, irgendwie schon. Nur suchen Politiker nach Wegen, wie Sie sich die Stimmen der Wähler sichern können. Ich dagegen will nerven.

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