Fünf Monate lang haben vier Intellektuelle für die SZ den Bundestagswahlkampf beobachtet und in der Interviewserie Wahl-Watcher kommentiert: Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Philosoph Michael Hampe, die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling und der Historiker Martin H. Geyer haben sich intensiv mit Deutschland und seinen Themen in diesem Wahljahr auseinandergesetzt. Am Morgen nach der Bundestagswahl ziehen sie Bilanz.
SZ: Eine Frage, die viele Menschen, auch viele unserer Leser, verunsichert, ist: Was bedeutet der Einzug der AfD ins deutsche Parlament für die politische Kultur in unserem Land?
Elisabeth Wehling: Es besteht die Gefahr, dass autoritär-nationale Sprache in den Bundestagsdebatten zunehmend normal wird. Dadurch könnten solche Denkmuster noch regelmäßiger ihren Weg in den öffentlichen Diskurs finden. Sprache schlägt sich direkt auf das Denken und die Wahrnehmung von politischen Herausforderungen nieder.
Michael Hampe: Ich glaube nicht an diese Gefahr. Ja, es wird eine Weile grober zugehen im Parlament. Aber wenn die Medien und die anderen Parteien sich nicht auf jeden abwegigen Spruch eines AfD-Abgeordneten einlassen, wird sich das "Geschäftsmodell" dieser Partei schnell erschöpft haben. Programmatisch ist diese Partei nämlich schwach.
Thea Dorn: Ich rate dazu, erst einmal abzuwarten, wie sich die AfD im Parlament tatsächlich präsentiert. Der gestrige Abend brachte dazu sehr unterschiedliche Signale: Mit einem Jörg Meuthen sollte man sich argumentativ auseinandersetzen. Einem wie ihm jetzt schon das Stigma "Nazi" an die Stirn zu kleben, wäre kontraproduktiv, würde der AfD nur noch mehr Zustimmung verschaffen. Sollte aber etwa Alexander Gauland bei seinem Krawall-Kurs bleiben, wie er es gestern Abend angedeutet hat, muss man dem in aller Schärfe begegnen.
Martin H. Geyer: Für unsere politische Kultur bedeutet das zunächst, dass wir jetzt offenbar ein Parteisystem haben, das das ganze politische Spektrum aufweist, wie wir es aus Deutschland vor 1933 und vielen anderen Ländern kennen. Das ist neutral formuliert. Konkret bedeutet es, dass rechtsradikale Positionen von nun an eine mediale Bühne haben werden, was ja über Jahrzehnte unvorstellbar war.
Was lesen Sie aus dem Ergebnis über die politische Landkarte Deutschlands ab?
Wehling: Wir sind im Moment politisch vielfältiger aufgestellt als früher, das Niveau der kleinen Parteien gleicht sich zunehmend an. Gleichzeitig hat sich in großen Teilen der Bevölkerung das Denken radikalisiert. Das geht mit einer radikalisierenden Sprache einher, die Gräben aufreißt und vertieft.
Hampe: 87 Prozent der Deutschen wählen nicht deutsch-national. Aber rechte ehemalige Nichtwähler und vom rechten Rand der CDU Abgewanderte sind jetzt im Bundestag repräsentiert. Der rechte Rand und seine Ressentiments sind öffentlich sichtbarer geworden; existiert haben sie allerdings schon vorher. Vielleicht ist ihre Sichtbarkeit gar nicht schlecht.
Dorn: Der Mainstream in unserem Land hat sich — wie in den meisten westlichen Ländern — vor allem in den vergangenen zehn Jahren deutlich nach links verschoben: Eine Sensibilität für Minderheiten, Kosmopolitismus und ökologisches Bewusstsein sind im offiziellen Diskurs heute eine Selbstverständlichkeit. Das geht so weit, dass diejenigen, die man früher als "bürgerlich konservativ" bezeichnet hätte, heute keine politische Heimat mehr haben. Dass das auf Dauer nicht gutgeht, ist eigentlich klar.
Geyer: Das Ergebnis straft die politische Linke ab. Darüber täuscht auch nicht hinweg, dass die Kanzlerin verdächtigt wird, die CDU auf einen sozialdemokratischen Kurs gebracht zu haben. Das Land wird konservativer - aber wen wundert das, wenn man sich die demographische Entwicklung und die aktiven Wähler anschaut. Es zeigt aber auch, dass es Teile unseres Landes gibt, wo man eher nicht unbedingt leben und arbeiten möchte. Das wird noch eine eigene Problemspirale hervorrufen.