Integration:"Zwei Millionen Menschen ohne legalen Status"

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Murat Erdoğan, 56, leitet das Institut für Migrations- und Integrationsforschung an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul. (Foto: Murat Erdogan/OH)

Neben den Syrern leben viele Migranten ohne legalen Status in der Türkei, sagt der Migrationsforscher Murat Erdoğan.

Von Tomas Avenarius

Wenn es um Flüchtlinge in der Türkei geht, denkt Europa an die Millionen Syrer im Land. Die meisten schlagen sich halbwegs durchs Leben. Doch es sind weit mehr Menschen ins Land gekommen, die Schutz, Arbeit und eine Zukunft suchen, sagt der Istanbuler Migrationsforscher Murat Erdoğan.

SZ: In Deutschland hat man überfüllte Flüchtlingslager vor Augen, wenn von den 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei die Rede ist. Stimmt das noch?

Murat Erdoğan: Nein. Nur 60 000 der syrischen Flüchtlinge leben noch in Camps. Das ist kaum mehr als ein Prozent. Alle anderen leben in und mit der türkischen Gesellschaft. 750 000 Syrer besuchen türkische Schulen, mehr als 33 000 studieren an den Unis. Der Zugang zu Bildung ist der erste Integrationsschritt. Und jedes Jahr werden 100 000 syrische Kinder geboren. Die Signale sind eindeutig: De facto wird in der Türkei längst Integrationspolitik betrieben, auch wenn die Regierung das nicht sagt. Man weiß, dass die meisten Syrer bleiben werden. Nur ein kleiner Teil kann zurück in die Heimat, wenige nach Europa.

Zur Integration gehört auch Arbeit.

Rund rund 1,2 Millionen der Syrer arbeiten ja, in der informellen Wirtschaft. Das sind 38 Prozent der Flüchtlinge. Sie arbeiten zwar meist schwarz, aber das tun zehn Millionen Türken auch. Informelle Jobs sind ein Kennzeichen der türkischen Ökonomie. Die informelle Wirtschaft hält die Syrer im Land, sie fühlen sich sicher. In Deutschland ginge das so nicht - der informelle Sektor ist viel zu klein.

Was heißt das für die türkische Wirtschaft?

Die Syrer tragen zwar zur Wirtschaftsleistung bei. Aber schon ein einziger Schüler kostet den Staat 1000 Dollar pro Jahr, und bei 750 000 Schülern summiert sich allein das zu 750 Millionen Dollar. Andererseits stehen die syrischen Flüchtlinge in der Türkei auf diese Weise schnell wieder auf eigenen Beinen.

Die Türkei hat die Lage also im Griff?

So einfach ist es nicht. Das Problem ist nicht die Religion oder die Herkunft der Menschen. Es ist egal, ob einer Muslim oder Christ ist, Türke, Araber oder Deutscher. Entscheidend ist die Zahl. Und die ist in der Türkei riesig. 3,6 Millionen Syrer stehen unter temporärem Schutz. Dazu kommen 330 000 Asylsuchende aus anderen Staaten wie Irak. Die Türkei kennt keinen Asylstatus für Nicht-Europäer, sie genießen internationalen Schutzstatus. Doch es gibt eine dritte Gruppe in der Türkei: Zwei Millionen Menschen ohne legalen Status. 2019 griff die Polizei 450 000 dieser Irregulären auf, mehr als die Hälfte waren Afghanen. Der Rest kommt aus Iran, Pakistan oder anderen Staaten. Diese zwei Millionen vergisst man in Europa. Das ist ein Riesenproblem. Solche Irregulären waren es zumeist, die im März 2020 über die griechische Grenze wollten. Sie müssen stets die Deportation aus der Türkei fürchten. Sie haben nichts zu verlieren.

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