Integration:Parallele Gesellschaft

Die kurdisch-libanesische Gemeinschaft hat einen schlechten Ruf - meist ist sie gemeint, wenn von "Clans" die Rede ist. In Essen stellen sich drei Frauen gegen Gewalt. Sie wollen die Stadt mitgestalten.

Von Bernd Kastner, Essen

Sie sprechen, sollte man meinen, Selbstverständliches aus. Drei Mütter sitzen auf einer Parkbank neben einem Spielplatz, zwischendurch schaut der Sohn von einer der Frauen vorbei. "Wir wollten ein Signal setzen, dass wir diese Gewalt nicht möchten", sagt die Frau mit dem dunklen Kopftuch. "Dass wir uns Sorgen machen um unsere eigenen Kinder." Sie und die beiden anderen sagen, was man in dieser Form offenbar noch nicht gehört hat in Essen. Zumindest nicht so öffentlich und so klar. Kürzlich haben sie einen Brief geschrieben, "liebe Essenerinnen und Essener", so beginnt er. 15 arabische Frauen haben ihn unterzeichnet, und seither reden die Initiatorinnen täglich über ihre Botschaft. Über Gewalt und Gegenmittel. Selbstverständliches kann so spektakulär sein, und wer weiß, vielleicht hat mit ihren Worten eine neue Zeit in Essen begonnen. Arabische Frauen erheben ihre Stimme.

Nordviertel, ein sonniger, warmer Frühlingstag. Lina Khodr, 29, Zahra Kharroubie, 38, und Rania Issa, 31, erzählen von ihrem Alltag, der so absolut normal sei. Sie sind verheiratet, haben Kinder, arbeiten, engagieren sich für die Stadtgesellschaft, zwei sind deutsche Staatsbürgerinnen, sprechen perfekt Deutsch. Sie sind kurdisch-libanesischer Abstammung und gehören zu jener Gruppe, die in den Medien immer wieder unter einem abwertenden Sammelbegriff auftauchen: "arabische Clans". Wenn einzelne Mitglieder der angeblichen "Clans" auf Beutezug gehen oder im Pulk Polizisten bedrohen. Oder sich gegenseitig etwas antun. 15 000 libanesische Kurden leben geschätzt in Deutschland, vor allem in Berlin, Bremen - und eben in Essen. Dort sind es etwa 6000, die Ruhrgebietsstadt gilt der Community als heimliche Hauptstadt, weil hier viele Fäden zusammenlaufen.

An einem Samstag im April hat dort zuerst ein Mann einen anderen niedergestochen, mitten in der Fußgängerzone; am Abend desselben Tages hat ein dritter Mann einen vierten mit mehreren Schüssen lebensgefährlich verletzt, ebenfalls auf offener Straße. Das 21-jährige Opfer der Kugeln hatte mit der Messerstecherei nichts zu tun, es gehört lediglich zur Familie des ersten Täters; der Schütze wiederum soll der Bruder des ersten Opfers sein. Sofort war von einer "Fehde" zwischen zwei arabischen Familien die Rede, und von Blutrache. Die "Selbstjustiz" sei "Ausdruck von mangelndem Respekt und Vertrauen in Polizei und gesellschaftliche Ordnung", kritisiert Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU): "Diese Art von Parallelgesellschaft ist völlig inakzeptabel."

Libanesisch-Kurdische Frauen gegen Gewalt in Essen

Zahra Kharroubi, Lina Khodr und Rabia Issa (von links) wollen keine Gewalt zwischen den Familien.

(Foto: Volker Wiciok)

Im Ruhrgebiet laufen die Fäden der Familien zusammen

Ein Teil dieser "Parallelgesellschaft" sitzt nun auf dem Bänkchen im Essener Nordviertel, das direkt an die Innenstadt anschließt. Hier leben viele aus dieser Community, hier hat die Polizei nach der Schießerei mehrere mutmaßliche Täter festgenommen. "Manche sind überrascht von uns als arabische Frauen", sagt Lina Khodr, langes, blondes Haar, kein Kopftuch. "Manche Deutsche denken, dass arabische Frauen nichts sagen dürfen." Sie und Zahra Kharroubie leiten im Auftrag der Stadt Essen mehrere arabische Frauengruppen.

Sie haben den Mund aufgemacht, haben den im vergangenen Jahr neugewählten OB zu sich eingeladen. Das Treffen war schon lange geplant, 15 Frauen aus diversen Gruppen haben ihn empfangen und aus aktuellem Anlass den Brief unterzeichnet: "Unser ganzes Mitgefühl gilt dem jungen Mann, der aus niederen Beweggründen brutal niedergeschossen wurde. (...) Wir denken an die Mitglieder der Familie des Täters, die seine Tat verurteilen, die sich dafür schämen, die hilflos sind, weil auch sie nicht wissen, wie es weitergehen soll. Wir distanzieren uns aufs Äußerste von der Tat, (...) sie ist abgrundtief verachtenswert." Essen ist solche Widerworte gegen die Gewalt nicht gewohnt, dabei ist alles so simpel: "Wir wollen die Stadt mitgestalten", sagt Lina Khodr.

Ursprünglich wollten sie mit dem OB über das Thema Duldung reden. Viele der kurdischen Libanesen leben seit Jahren, ach was, seit Jahrzehnten nur mit einer Duldung in Deutschland, selbst wenn sie hier geboren sind, mitunter auch dann, wenn ihre Kinder Deutsche sind. Die Duldung ist der dürftigste aller Aufenthaltstitel, genau genommen ist es gar keiner, denn auf dem offiziellen Schein steht: "Aussetzung der Abschiebung. Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!" Wer geduldet ist, darf Alltägliches nicht tun oder nur mit amtlicher Ausnahmegenehmigung: nicht arbeiten, nicht heiraten, keinen Führerschein machen, kein Konto, nicht aus Essen wegziehen. Es wird geschätzt, dass 1000 der Essener Libanesen nur geduldet sind. Diesen prekären Status machen viele mitverantwortlich für eine Parallelgesellschaft, aus der nur dann Nachrichten nach draußen dringen, wenn die Polizei schlichten muss oder die Kripo ermittelt, weil Blut fließt.

Bestenfalls geduldet

Die Mehrheit der libanesischen Kurden stammt aus dem Südosten Anatoliens, wo der arabische Mhallami-Dialekt gesprochen wird. Sie gelten dort als Araber. Aus wirtschaftlichen Gründen flohen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Tausende der Mhallami-Kurden nach Libanon. Die meisten von ihnen wurden nicht eingebürgert, sie gelten dort als Kurden, unterlagen oft Arbeitsverboten und lebten am Rande der Gesellschaft. Im libanesischen Bürgerkrieg in den Achtzigerjahren flohen viele in die Bundesrepublik, wo sie sich vor allem in Berlin, Essen und Bremen ansiedelten. Auch hier lebten und leben sie oft in einem prekären ausländerrechtlichen Status, viele sind bis heute nur geduldet. Die Mitglieder der Community haben zudem unterschiedliche Staatsbürgerschaften: die deutsche, türkische oder libanesische, viele sind staatenlos. beka

"Duldung heißt nicht, dass man gewalttätig werden muss." Für die Frauen auf der Parkbank liegt der Schlüssel in den Elternhäusern. "Unsere Eltern", sagt Rania Issa, "haben uns gut erzogen. So wollen wir unsere Kinder auch erziehen." Nicht so, wie sie es von vielen libanesischen Familien mitbekommen. Wird der Sohn verhauen, heiße es oft: Hau zurück! "Das ist nicht richtig", sagt Zahra Kharroubie. Die Kinder sollten lernen, solchen Konflikten aus dem Weg zu gehen. "Wir werden unseren Kindern vermitteln, dass Sicherheit nur durch Anerkennung rechtsstaatlicher Strukturen bestehen kann. Wir wollen und werden unseren Kindern nahe bringen, welch hohe Güter Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung sind." So haben sie es in ihrem Brief formuliert, und man muss wissen, dass Frauen in diesen Familien eine oft verkannte starke Stellung haben. Sie führen die "Binnenaufsicht", wie es ein Kundiger beschreibt.

Zwar betonen sie, dass Gewalteskalationen "Einzelfälle" seien und sie so etwas in ihren eigenen Familien noch nie erlebt hätten. Aber zweifellos sind es sehr prägende "Einzelfälle", die sich zu einem Stereotyp verdichtet haben. Die kurdisch-libanesische Community genießt einen denkbar schlechten Ruf in Essen, der wenig Raum für Differenzierung lässt. "Die denken, alle sind gleich", sagt Rania Issa.

Immerhin, die Stadt Essen, verantwortlich für den Aufenthaltsstatus, versucht sich inzwischen an Differenzierung. Eine Kommission will sich der Geduldeten annehmen und denen, die formal staatenlos und straffrei sind, eine Bleibeperspektive anbieten. "Nichts dergleichen kann erwarten, wer unsere Werte ablehnt oder straffällig wird", sagt OB Kufen. Er weiß auf jeden Fall einige Frauen an seiner Seite. Sie schicken dem Schwerstverletzten die besten Genesungswünsche. Er war wohl ein zufälliges Opfer eines seit Jahren schwelenden Konflikts zweier Familien. Lina Khodr sagt, es hätte auch eines ihrer Kinder treffen können.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: