Insel-Streit:Poker um einen Sehnsuchtsort

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70 Jahre ist der Konflikt zwischen Tokio und Moskau um das Kurilen-Archipel alt. Kurz vor Präsident Putins Besuch in Japan signalisiert Abe Kompromissbereitschaft.

Von Christoph Neidhart, Nemuro

Kap Nosappu ist ein Ort der Sehnsucht. Der Blick schweift hinüber nach Habomai, ein winziges Archipel, von dem die japanische Regierung sagt, die Sowjets hätten es mit den Inseln Shikotan, Kunashir und Iturup nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs völkerrechtswidrig besetzt. Am 1. September 1945 stürmte die Rote Armee auf Shikotan das Klassenzimmer, in dem der heute 82-jährige Hiroshi Tokuno saß. "Sie zogen nicht einmal die Schuhe aus. Erst dachten wir, sie seien Amerikaner", erzählt er. Davor fürchteten sich die Fischer auf Shikotan. "Aber die Russen, das war noch viel schlimmer." 1948 wurde er, nun 13, wie die übrigen verbliebenen Japaner von den vier Inseln nach Hokkaido deportiert.

Jahrzehntelang hat Japans Regierung auf einer Rückgabe der vier Inseln als Bedingung für einen Friedensvertrag mit Moskau bestanden. Später reduzierte Tokio seine Forderung auf die Formel "2 plus x"; Moskau hätte die zwei kleinen Inseln zurückgegeben und wäre Tokio bei den beiden anderen entgegengekommen, etwa mit einer gemeinsamen Verwaltung oder einer Anerkennung von Japans Souveränität, vorläufig ohne Rückgabe. Premier Shinzo Abe, der am Donnerstag Russlands Präsident Wladimir Putin im westjapanischen Yamaguchi empfängt, scheint nun auch von dieser Lösung abgerückt zu sein. Er würde gerne in die Geschichte eingehen als der Premier, der den Territorialstreit mit Moskau gelöst und den überfälligen Friedensvertrag unterzeichnet hat.

In der Konferenz von Jalta 1945 sprachen die Alliierten den ganzen, seit 1875 von Japan beherrschten Kurilenbogen Moskau zu. Der Frieden von San Francisco 1952 bestätigte dies - und Japans Regierung akzeptierte den Status quo. Shikotan und Habomai, heute ein unbewohntes Archipel, gehören nicht zu den Kurilen. Im Oktober 1956 bot UdSSR-Parteichef Nikita Chruschtschow Tokio an, diese zwei kleinen Inseln an Japan zurückzugeben, wenn die beiden Staaten einen Friedensvertrag unterzeichneten. Moskaus Hoheit über Kunashir und Iturup stellte Tokio damals noch nicht infrage.

Baden auf Iturup: Die Insel gehört zu den sogenannten Süd-Kurilen, deren Rückgabe Tokio jahrzehntelang von Moskau gefordert hat. (Foto: Sergei Krasnoukhov/AP)

Abe schnürt ein großzügiges Wirtschaftspaket, doch Putin sagt: "Russland verkauft kein Land"

Allerdings rebellierte im selben Jahr Polen gegen Moskau, im Oktober marschierten Sowjettruppen in Ungarn ein, die Suez-Krise tobte. Mitten im Kalten Krieg wollte Washington verhindern, dass Japan sich Moskau annähert. US-Außenminister John Foster Dulles drohte dem damaligen Premier Ichiro Hatoyama deshalb, falls dieser Moskaus Hoheit über Kunashir und Iturup bestätige, gäbe Washington Japan das noch besetzte Okinawa nie zurück. Erst unter diesem Druck der USA begann Tokio, die beiden Inseln für sich zu beanspruchen. Dazu besann sich das Außenministerium auf einen Vertrag zwischen dem Zarenreich und dem Kaiserreich Japan von 1855, der die Grenze zwischen Iturup und Urup zog. Es erfand den Begriff "Süd-Kurilen" für die beiden Inseln, die angeblich nicht zu den Kurilen gehörten.

An diesem windigen, regnerischen Herbsttag gibt es kaum Sehnsüchtige, die auf den Pazifik hinausblicken und nach der Ruine des Leuchtturms von Habomai Ausschau halten. Auch im "Haus der Nostalgie" auf dem Kap, das von der Liga der Vertriebenen der Inseln geführt wird, finden sich kaum Besucher. Noch vor Kurzem war das "Haus der Nostalgie" ein Zentrum der Agitation gegen die russische "Okkupation" der Inseln. Inzwischen aber hat sich der Ton geändert.

"Wir wollen nicht, dass die russischen Bewohner von den Inseln vertrieben werden wie wir einst", sagt Vize-Direktor Koichi Shimizu. Und Shoichi Hamaya, der Sohn eines Vertriebenen, meint: "Es muss doch Möglichkeiten des Zusammenlebens geben." Die Leute der Liga, die von Japans Regierung finanziert wird, sind gleichsam über Nacht alle von ihrer Forderung abgerückt, Russland müsse alle vier Inseln zurückgeben. Auch der 82-jährige Tokuno schlägt in seiner Erzählung versöhnliche Töne an. "Unsere Lehrerin ignorierte die russischen Soldaten und fuhr mit dem Unterricht fort", erinnert er sich. Ein Mitschüler konnte seine Rechenaufgabe nicht lösen. "Da schrieb ihm ein russischer Soldat das Resultat hin. Drei Jahre haben wir multikulturell gelebt, unter Russen, sie waren wie eine Familie für uns", sagt er. Er denke nicht daran, nach Shikotan zurückzukehren. Aber er möchte die Heimat seiner Vorfahren und ihre Gräber besuchen können.

SZ-Karte (Foto: SZ-Grafik)

Zwischen der Kreisstadt Nemuro und den Inseln gibt es seit 25 Jahren durchaus einen gewissen Grenzverkehr. Russische Fischer laufen den Hafen Hanasaki an, wo sie ihre Fänge als Handelsware abliefern, nicht als frisch gefangenen Fisch. Damit fallen diese nicht unter die Quoten, und Japan braucht sich nicht darum zu kümmern, ob sie legal gefangen oder gewildert wurden. Ein Arzt in Nemuro erzählt, er behandle regelmäßig russische Patienten, sein Krankenhaus beschäftige eigens eine Dolmetscherin.

Über die Frage, warum fast alle ihre Meinung über die Rückgabe der Inseln geändert hätten, lacht er. "Wenn Tokio die Meinung ändert...", antwortet er vielsagend. Muneo Suzuki, der Nemuro im japanischen Parlament vertritt, und der Diplomat Kazuhiko Togo versuchten schon vor 15 Jahren, Tokio von seiner Maximalforderung abzubringen - ihre Begründung: Sie habe keine Chance. Togo wurde dafür gefeuert, Suzuki musste, weil man ihm Korruption nachweisen konnte, ein Jahr ins Gefängnis. Togo sagt seither, je länger Japan warte, desto geringer sei die Chance, überhaupt eine Insel zurückzuerhalten. Suzuki wiederum berät nun Abe. Und behauptet, der Premier habe verstanden, dass höchstens Shikotan und Habomai verhandelbar seien. Das deckt sich mit Putins Worten, der die Erklärung von 1956 zur Grundlage von Verhandlungen machen will.

Vor 25 Jahren waren die Inseln verarmt, auf Iturup saß die russische Luftwaffe, aber es gab keine asphaltierten Straßen. Viele Menschen hatte es von irgendwoher in der Sowjetunion ans Ende der Welt verschlagen. Für ein paar Tausend Dollar wären sie wohl weggezogen. Seither hat Moskau viel investiert, nun wollen die meisten bleiben. Ein russischer Seeigel-Fischer im Hafen von Hanasaki höhnt: "Die Japaner haben den Krieg verloren, das müssen sie akzeptieren, die Deutschen haben es auch akzeptiert. Wir geben nichts zurück, das ist russische Erde. Nein, nicht mal die zwei kleinen Inseln."

Abe scheut sich, den Japanern zu sagen, dass er bereit ist, Kunashir und Iturup aufzugeben. Noch immer spukt in Japan die Vorstellung durch viele Köpfe, Tokio könnte Moskau die Inseln abkaufen. 1991 kursierte in Moskau sogar ein Betrag, den Japan geboten habe. Abe schnürt Putin auch diesmal ein großzügiges Wirtschaftspaket, doch Putin sagt: "Russland verkauft kein Land."

Washington hat Tokio gebeten, Putin wegen seiner Ukraine-Politik nicht einzuladen. Abe hat sich darüber hinweggesetzt und Putin so eine Tür geöffnet. Aber Putin pokert höher; mit Blick darauf, dass der Rückhalt Trumps für Abe unsicher ist, verlangt er, Japan solle seine Sanktionen gegen Russland aufheben. Erst dann werde er über einen Friedensvertrag reden. Und wenn Abe sehr freigiebig ist, irgendwann vielleicht sogar über Shikotan und Habomai.

© SZ vom 14.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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