Das Mittel ist in Deutschland nicht zugelassen und hätte Experten zufolge niemals auf den Markt gelangen dürfen. Seine Rückstände befinden sich auf Orangen, Bananen, Paprika oder Reis. Der Stoff soll Insekten töten, eine gute Ernte garantieren, er ist beliebt bei Gemüsebauern und Zitrusfarmern. Chlorpyrifos zählt zu den am meisten genutzten Insektiziden der Welt. Allein im Jahr 2017 fanden Kontrolleure bei Sonderkontrollen in Deutschland in mehr als jeder dritten untersuchten importierten Grapefruit und Orange und jeder vierten Mandarine Rückstände. Und auch bei jeder fünften Pfefferprobe.
Schon vor acht Jahren kamen Wissenschaftler in einer Langzeitstudie aus Kalifornien zu dem Ergebnis, dass das Pflanzenschutzmittel die Entwicklung des kindlichen Gehirns im Mutterleib schädigen kann. Die Höchstwerte wurden EU-weit heruntergesetzt, verboten wurde Chlorpyrifos nicht. Dieses Mal aber könnte es anders ausgehen. Am fünften und sechsten Dezember will die Europäische Kommission über die Zukunft von Chlorpyrifos entscheiden.
Exklusiv Pflanzenschutz:Die Zahl der erlaubten Pestizide steigt
Die Grünen werfen der Bundesregierung vor, sie vernachlässige damit den Gesundheitsschutz der Bevölkerung.
Informationen der Süddeutschen Zeitung, des Bayerischen Rundfunks, Le Monde und dem Investigative Reporting Denmark zufolge wird sich Deutschland bei der Abstimmung der EU-Kommission für ein Verbot des Insektizids einsetzen. Zitrusstaaten wie Spanien, Griechenland, Italien und Portugal könnten dagegen stimmen, dort wird Chlorpyrifos anders als in Deutschland zuhauf eingesetzt. Für ein Verbot müssen sich mindestens 15 Mitgliedsstaaten stimmen, die 65 Prozent der Bevölkerung vertreten.
Die Experten der Europäischen Lebensmittelüberwachungsbehörde Efsa kamen jüngst auf Anfrage der EU-Kommission zu einer vernichtenden Bewertung des Pflanzenschutzmittels. Chlorpyrifos erfülle die nötigen Sicherheitsbestimmungen nicht - aufgrund der möglichen Auswirkungen auf die Gesundheit.
Das amerikanische Unternehmen Corteva, das im Juni aus der Fusion von Dow, dem Erfinder des Produkts, und Dupont entstand, traf sich noch im Januar einem internen Papier zufolge mit Vertretern der Europäischen Kommission und teilte den Beamten mit, man sei der Meinung, die Regulierung von Chlorpyrifos solle nicht auf Grundlage des öffentlichen Drucks erfolgen, der von Aktivisten ausgelöst werde, sondern auf der Grundlage solider Beweise. Auf Anfrage teilt der Hersteller Corteva mit, kein Wirkstoff sei gründlicher untersucht worden als Chlorpyrifos. Man sei grundsätzlich nicht mit den Schlussfolgerungen der Efsa einverstanden.
Niemand kann sagen, wie groß der Schaden ist, den das Insektizid schon angerichtet hat. Aber die Studienergebnisse sind besorgniserregend: Wissenschaftlern zufolge lässt es Rattenhirne schrumpfen, es soll den Intelligenzquotienten von Kindern herabsenken und Aufmerksamkeitsstörungen verursachen. Auch konnte es im Urin von Landwirten nachgewiesen werden. Schon die kleinste Dosis kann sich auf das Gehirn auswirken. Zu diesem Schluss kam ein Expertenteam des schwedischen Karolinska Institutet, der Stockholm Universität und der Harvard School of Public Health vor etwa zwei Jahren.
Der Wissenschaftler Axel Mie, der in Schweden zu Pestiziden und deren Auswirkungen auf das Gehirn forscht, machte im Herbst 2017 einen spektakulären Fund. Axel Mie war im Internet auf einen Artikel zu Chlorpyrifos gestoßen, der ihm rätselhaft vorkam. Es handelte sich um eine Publikation zu einer industriefinanzierten Studie, die vor mehr als einem Jahrzehnt für die Zulassung des Pflanzenschutzmittels auf europäischer Ebene eingereicht worden war. Mie fand in einer Tabelle Hinweise darauf, dass sich das Mittel nicht nur, wie bisher bekannt, in höheren, sondern bereits in einer kleinen Dosis auf das Gehirn auswirken kann. Er dachte: "Das kann doch nicht wahr sein, dieser Effekt auf das Gehirn?"
Er schrieb eine Mail an die schwedische Überwachungsbehörde und bat um die Rohdaten der Studie. Er berief sich auf das Informationsfreiheitsgesetz, das es Bürgern ermöglicht, Akten einzusehen, die von öffentlichem Interesse sind. Kurze Zeit später bekam Axel Mie Post, das Dossier umfasste Hunderte Seiten. Der Wissenschaftler fand, was er vermutet hatte. "Die Daten zeigten, dass schon bei der kleinsten Menge Chlorpyrifos Hinweise vorliegen, dass das Gehirn verändert ist", sagt Axel Mie. "Da wusste ich, das ist ein heißes Ding."
Dieser gefährliche Effekt nämlich taucht im Fazit der Herstellerstudie nicht auf. Er blieb unentdeckt, als die zuständige spanische Behörde im Jahr 2006 die Zulassung genehmigte. Offenbar hatte man keinen Blick in die Rohdaten geworfen und sich auf die industriefinanzierten Ausführungen verlassen. Auf eine Anfrage von SZ und BR reagierte die Behörde nicht. Auch der Hersteller Corteva will oder kann den Widerspruch nicht erklären.
Der Wissenschaftler Mie sendete seine Datenfunde über die veränderten Rattengehirne im Herbst 2017 an die europaweite Überwachungsbehörde Efsa. Seine Ergebnisse, die er später im Journal Environmental Health publizierte, flossen in die Sicherheitsbeurteilung der Efsa über Chlorpyrifos ein. Die Ergebnisse der Rattenversuche seien bedenklich, heißt es in dem Statement der Europäischen Überwachungsbehörde, ebenso wie die möglichen neurologischen Auswirkungen bei Kindern. Corteva teilt auf Anfrage mit, Behörden in den USA und Australien würden andere Schlussfolgerungen ziehen.
"Chlorpyrifos hätte niemals zugelassen werden dürfen", sagt Harald Ebner, der für die Grünen im Bundestag und im Agrarausschuss sitzt. Es könne nicht sein, dass der Hersteller selbst das Studiendesign erarbeite, bestimme, wer die Studie durchführt und dann das Ergebnis an Behörden übermittele. "Es müsste eine unabhängige Stelle geben, welche die Studien vergibt", sagt Ebner. "Der Fehler hätte bereits bei der Erstzulassung erkannt werden müssen. Die spanische Behörde hat die Zusammenfassung kritiklos übernommen."
Der europäische Lobbyverband Copa-Cogeca reagiert nervös
Interne Papiere zeigen nun, wie Corteva versucht, das Verbot des Pflanzenschutzmittels zu verhindern. In einem Brief an europäische Zulassungsbehörden streitet der Hersteller ab, dass Chlorpyrifos neurotoxisch wirke und das Gehirn von Mensch und Tier beeinflusse.
Auch der europäische Lobbyverband Copa-Cogeca reagiert nervös. In einem Schreiben an die Europäische Kommission, das der SZ vorliegt, heißt es, man habe "leider bis heute keine vergleichbar effizienten Alternativen", um Pflanzenschutz zu gewährleisten. Man bitte darum, Chlorpyrifos verwenden zu dürfen, bis eine adäquate Alternative gefunden sei. Andernfalls befürchte man signifikante Ernteeinbußen. Auf eine Anfrage reagierte der Verband nicht.
Aber selbst, wenn Chlorpyrifos in der Europäischen Union verboten sein sollte, werden weiterhin Zitrusfrüchte und Gemüse aus anderen Teilen der Welt importiert werden. Helfen würde ein totales Importverbot, wie es Dänemark derzeit erwägt. Das Bundeslandwirtschaftsministerium schreibt auf Anfrage, man wolle sich dafür einsetzen, die erlaubten Höchstwerte abzusenken.