Süddeutsche Zeitung

Naturschutz:Lasst Insekten sprechen

In Berlin gründet sich ein Lobbyverband für Käfer, Fliegen und sonstiges Krabbelgetier. Die Initiatoren, unterstützt von Grünen-Politikerin Renate Künast, meinen es durchaus ernst: Ohne Insekten seien unsere Lebensgrundlagen in Gefahr.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Die Krabbeltiere melden sich jetzt also zu Wort. Und sie haben keine frohe Botschaft zu verkünden. "Wir haben immer weniger Wohnraum, um unserer Nachwuchs aufzuziehen", sagt die Prachtlibelle und wiegt sorgenvoll das riesenhafte blaue Haupt. Man wolle jetzt mal reden, so "auf Augenhöhe" mit den lieben Menschen: "Dass ihr euch den eigenen Lebensraum zerstört, das verstehen wir einfach nicht." So könne es nicht weitergehen, warnt das Perlmuttfalterweibchen. Und auch der Goldlaufkäfer ist bedrückt. "Ihr selbst seid bei euren Kindern doch auch ganz sensibel, wenn es um Pestizide in der Nahrung geht."

Mittwoch in einer Kunstetage in Berlin-Kreuzberg, drei überdimensionierte Insektenköpfe sind auf einem Podium aufgetaucht. Hier spricht Deutschlands erste "Insektenlobby". Die neu gegründete Interessenvertretung hat es sich zum Ziel gesetzt, den "11 200 000 000 000 000 000 krabbelnden, kriechenden und fliegenden Arbeiter*innen" des Landes "eine Stimme" zu geben. Kein Witz, die Lobbyisten meinen es durchaus ernst. Darauf deutet auch die Anwesenheit von Renate Künast hin. Die ehemalige Verbraucherschutzministerin der Grünen, Hobbygärtnerin und selbsternannte "Kantinenbeauftragte" des Bundestags, kämpft seit Jahren um bessere Tierhaltung in der Landwirtschaft und um mehr Nachdenken an Deutschland Esstischen.

Bevor die Grüne zum Zug kommt aber haben die Insekten das Wort, die sich hier Respekt verschaffen wollen. Das Viechzeug werde unterschätzt, so erfährt man. Lebensmittel im Wert von mindesten 153 Milliarden Euro entstünden jedes Jahr weltweit durch Pflanzenbestäubung. Durch intensive Flächennutzung und Überdüngung aber, durch Pestizide, Glyphosat und Wasserverschmutzung, sei die Biomasse dieser Spezies in weiten Teilen Deutschlands um 75 Prozent zurückgegangen. Damit gingen Vögeln, Amphibien, aber eben auch den Menschen unverzichtbare Nahrungsproduzenten verloren.

"Auch global gesehen wisst ihr, was Hungersnöte sind. Aber warum nehmt ihr uns unsere Nahrung komplett weg?", fragt also der Goldlaufkäfer die Menschen in Berlin. Später wird er sich die Insektenmaske abnehmen und - wie einige der anderen Tierdarsteller - als Vertreter der Ökoverbands Bioland vorstellen. Es wird hier also, so stellt sich heraus, nicht nur für Empathie mit dem Getier geworben, sondern auch für das Fortkommen des Ökolandbaus.

"Insekten sind systemrelevant"

"Um das Überleben der Insekten in unseren heimischen Öko-Systemen zu sichern, muss der Einsatz der chemisch-synthetischen Pestizide um mindestens 50 Prozent reduziert werden", sagt Goldkäferdarsteller Gerald Wehde. Nötig seien auch Abgaben bei der Verwendung von Pestiziden. "Insekten schützen, nicht Konzerne! Insekten sind systemrelevant, ohne sie geraten unsere Lebensgrundlagen ins Wanken", warnt Grünen-Politikerin Künast.

Was Künast nicht sagt: dass die Bundesregierung 30 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen auf Ökolandbau umstellen will bis 2030, aber noch sehr weit von diesem Ziel entfernt ist. Aber auch privat könne viel erreicht werden, sagt die Grüne. Man müsse der Welt einfach unermüdlich "auf den Nerv gehen", mit Forderungen nach mehr Ökolandbau und gesünderem Essen. Aber auch Wildblumensamen für den Balkon könnten weiterhelfen. "90 Prozent der Insekten, die Pflanzen fressen, sind auf heimische Wildpflanzen angewiesen", erklärt Reinhard Witt vom Verein Naturgarten. "Wenn wir nicht umstellen", sagt Bioland-Präsident Jan Plagge, "dann werden wir auch nicht Teil des Überlebens sein". Er meint nicht seine Branche. Er meint die Insekten.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5702146
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/zoc
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.