Innere Sicherheit:Wie ein Computerprogramm Attentäter aufspüren will

Videoüberwachung

Videoüberwachung an einem Gebäude in Frankfurt am Main (Hessen), aufgenommen am 05.01.2017. (Foto:dpa)

(Foto: dpa)
  • Das Risiko-Analysesystem "Radar" wurde zusammen mit der Universität Zürich entwickelt. Ähnliche Programme gibt es in der Schweiz schon seit Jahren.
  • Radar erstellt Persönlichkeitsprofile von potenziellen Gefährdern.
  • Anis Amri wäre von dem System rot markiert worden. Die Farbe steht für hohes Risiko.

Von Hans Leyendecker und Georg Mascolo

Wer sich mit der Bedrohung durch islamistischen Terrorismus in Deutschland beschäftigt, starrt auf ein Wimmelbild. 1200 Menschen werden mittlerweile zum "islamistisch-terroristischen Personenpotenzial" gerechnet, wie Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen vor ein paar Tagen auf einer CSU-Klausurtagung im oberfränkischen Kloster Banz sagte. 548 von ihnen gelten als Gefährder. Und in jedem Fall stellt sich die Frage, ob man es mit einem zu allem entschlossenen Terroristen zu tun hat oder nur mit einem Maulhelden. Die Bekämpfung des Terrorismus, sagte Maaßen, sei "auch Risikomanagement".

Nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR werden deutsche Staatsschützer von Juli an mit einem Computerprogramm arbeiten, das helfen soll, dieses Risiko zu minimieren. Der Name: "Radar". Das Programm soll beurteilen, wie gefährlich eine Person wirklich ist.

Je nach Einschätzung bekommt sie eine gelbe, eine orangefarbene oder eine rote Markierung, die auf einem Bogen festgehalten wird. Gelb steht für moderates, orange für auffälliges, Rot für hohes Risiko. Bisher ist "Radar" nur im Probebetrieb, doch erste Ergebnisse sind, vorsichtig formuliert, bemerkenswert.

Nach dem Anschlag von Berlin, bei dem zwölf Menschen starben, gaben die Spezialisten die für das System wichtigen Informationen über den Attentäter Anis Amri bei "Radar" ein. Es waren Angaben, die schon bei der intensiven Beobachtung des 24-jährigen Tunesiers vor dem Attentat vorgelegen hatten. Mithilfe der bislang üblichen Methoden waren die Staatsschützer immer wieder zu dem Ergebnis gekommen, im Fall Amri sei es "eher unwahrscheinlich", dass ein Anschlag passieren werde. "Radar" kam auf der Grundlage derselben Informationen zu einem anderen Ergebnis. Das System markierte Amri mit roter Farbe.

In der Schweiz werden ähnliche Programme im Kampf gegen Amoktäter eingesetzt

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat das Risiko-Analysesystem "Radar" gemeinsam mit der Universität Zürich entwickelt. Ähnliche Systeme gibt es in der Schweiz schon seit ein paar Jahren. Programme wie "Dyrias" (Dynamisches Risikoanalyse-System) sollen Schulen helfen, potenzielle Amokläufer zu erkennen. Beschäftigt sich ein Schüler mit der Geschichte früherer Amoktäter? Hat er Waffen? Spricht er über Suizid? Das Programm gleicht die Antworten mit dem Verhalten bekannter Amoktäter ab und fertigt eine Risikoeinschätzung an.

"Radar" funktioniert vom Prinzip her ähnlich: Welche Einstellung hat die zu überprüfende Person zu Gewalt? Hat sie militärische Erfahrung? Hat sie Zugang zu Waffen? Hat sie geringen sozialen Status, ist sie isoliert?

Die Auswertung des Programms basiert auf den Erkenntnissen über die Vorgehensweise von 30 Attentätern sowie 30 Gefährdern und "relevanten Personen". Eine Erkenntnis, die die Sicherheitsbehörden aus den islamistisch motivierten Terrortaten in den USA, wie in Orlando, oder in Europa gezogen haben, lautet ja: Die Täter waren meist bekannt, gegen sie wurde oft schon ermittelt, sie waren zeitweise observiert und auch abgehört worden. So war es auch bei Anis Amri.

In den vergangenen fünfzehn Jahren haben die Behörden Standardprogramme entwickelt, um die Gefahr im Blick behalten zu können. Über jeden der aktuell 548 Gefährder und jede "relevante Person" wurden Persönlichkeitsprofile mit wichtigen Details erstellt. Im Fall Amri war das vertrauliche Dokument 17 Seiten lang. Fünf Tage vor dem Anschlag war es noch einmal aktualisiert worden. Und doch leistete es nicht das, was künftig "Radar" leisten soll: das Verhalten einer Person mit den Erkenntnissen über das Vorgehen von Attentätern abzugleichen.

1200 Personen

Sie bilden das "islamistisch- terroristische Potenzial", in Deutschland, schätzen die Geheimdienste. Dazu gehören 548 "Gefährder" denen die Behörden einen Anschlag zutrauen, aber auch Unterstützer, die Terroristen, beherbergen, zu ihnen Kontakt halten. Der Salafismus, für die meisten islamistischen Täter die ideologische Grundlage, hat nach Angaben des Verfassungsschutzes 9700 Anhänger in Deutschland.

Die Daten kommen in diverse Datenbanken der Polizei, Reisewege sollen im Blick behalten werden. In Berlin beschäftigt sich die Arbeitsgemeinschaft "Operativer Informationsaustausch" im Gemeinsamen Terror-Abwehrzentrum (GTAZ) mit Fällen wie Anis Amri. Im GTAZ, dem 40 Sicherheitsbehörden angehören, war der Tunesier zwischen dem 4. Februar und dem 2. November 2016 sieben Mal Thema. Nach langen Diskussionen war man stets zu dem Schluss gekommen, dass ein Anschlag nicht zu befürchten sei.

Die Angaben einer Vetrauensperson führten im Fall Amri in die Irre

Im GTAZ werden bislang nur sogenannte Gefährdungssachverhalte beurteilt. Um die Gefährlichkeit einer Person geht es nicht. Im Fall Amri beschäftigte man sich etwa mit den Angaben einer Vertrauensperson (VP) der Polizei, Amri wolle sich für einen Anschlag eine Kalaschnikow besorgen, er denke über einen Sprengstoffgürtel nach, er hasse die Ungläubigen.

Die Terror-Spezialisten beschäftigten sich also mit Kalaschnikow und Sprengstoffgürtel und kamen zu dem Schluss: ein Anschlag Amris mit diesen Waffen ist nicht wahrscheinlich. Sie hatten recht. Über den Laster hat Amri mit der Vertrauensperson nie geredet.

Die Bundesländer baten seit einiger Zeit Bund und BKA um verlässlichere Kriterien für die Einstufung von Gefährdern. "Radar" kann eine Antwort sein. Auch Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ist für eine Systemänderung. Doch bei aller Analyse gilt die Kriminalistenweisheit: Nicht das Programm verhindert den Anschlag - entscheidend ist, welche Schlüsse der Benutzer aus den Ergebnissen zieht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: