Süddeutsche Zeitung

Innere Sicherheit:Aus den Augen, aus dem Sinn

Die Berliner Behörden versuchen, die "äußerst unübersichtliche Sachlage" im Fall Anis Amri zu durchschauen. Für die Silvesterfeier vor dem Brandenburger Tor wird nun das Sicherheitskonzept überarbeitet.

Von Jens Schneider, Berlin

Die Berliner Polizei hatte in den letzten drei Monaten vor dem Anschlag am Montag offenbar keinerlei Spur mehr vom mutmaßlichen Attentäter Anis Amri. Der Tunesier soll am Montagabend den Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin verübt haben, er wurde am Freitagmorgen in Mailand von der Polizei erschossen. Amri sei nach dem 21. September "in Berlin nicht mehr festgestellt worden", sagte der Chef des Berliner Landeskriminalamts (LKA), Christian Steiof, bei einer Sondersitzung des Innenausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus.

Der LKA-Chef widersprach damit auch einem Medienbericht, demzufolge Amri wenige Tage vor und unmittelbar nach dem Anschlag vor einer Moschee in Moabit gewesen sei. Die Moschee gilt als Anlaufstelle von radikalen Islamisten, Amri soll dort häufig gewesen sein. Der RBB hatte Aufnahmen einer Überwachungskamera veröffentlicht. "Die Person auf diesen Bildern ist definitiv nicht Anis Amri", sagte Steiof und berief sich dabei auf Polizeibeamte, die den Tunesier in der Vergangenheit observiert haben.

Nach dem Tod des mutmaßlichen Attentäters versuchen die Ermittler in Berlin nun, auch das weitere Umfeld vom Amri in Hinblick auf mögliche Unterstützer zu erkunden. Es müsse geklärt werden, ob Amri Komplizen gehabt habe, sagte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD). Man wisse nicht, ob es Mittäter gebe. Dabei gilt aber als erwiesen, dass Amri Teil eines islamistischen Netzwerks gewesen ist.

In diesem Zusammenhang soll jetzt umgehend ein Verbotsantrag für den Verein "Fussilet 33" in Berlin-Moabit vorbereitet werden, der die Moschee trägt. Derzeit werde untersucht, "ob man hier kurzfristig tätig werden kann", sagte Innenstaatssekretär Torsten Akmann vor dem Innenausschuss. Dabei müsse geklärt werden, ob "Verbotstatbestände" vorliegen, die einen solchen Schritt rechtfertigten. Dies könnten Strafverfahren gegen Beteiligte sein oder Hinweise auf die Unterstützung terroristischer Vereinigungen aus dem Verein heraus. In der Moschee sollen Muslime beim Islamunterricht für den bewaffneten Kampf der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien radikalisiert worden sein.

Vor dem Ausschuss sagte Innensenator Geisel, dass es in Berlin "weiterhin eine abstrakte hohe Gefährdungslage" gebe. Die Sicherheitsbehörden hätten aber keinerlei konkrete Hinweise auf weitere Anschlagspläne. Die Polizei habe die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, sagte Geisel auch mit Blick auf Großveranstaltungen wie die bevorstehende Silvesterfeier vor dem Brandenburger Tor und auch ein Konzert, das am Freitagabend zum Gedenken an die Opfer des Anschlags vom Montagabend veranstaltet wurde.

Für die jedes Jahr von Zehntausenden besuchte Silvesterfeier auf der Straße des 17. Juni gebe es ohnehin schon ein "deutlich höheres Sicherheitsniveau", sagte Geisel. Dieses werde nun noch einmal deutlich überarbeitet. Geisel sagte weiter: "Absolute Sicherheit gibt es nicht, und wir sollten auch nicht suggerieren, dass wir das gewährleisten können."

Der Ausschuss hatte Geisel und die Berliner Polizeispitze vorgeladen, um Einzelheiten über den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt zu erfahren. Dabei konnte noch nicht geklärt werden, wie der mutmaßliche Attentäter über Monate aus dem Blickfeld der Sicherheitsbehörden verschwinden konnte. Staatssekretär Akmann sprach von einer "äußerst unübersichtlichen Sachlage, ja einem Puzzle".

Amri habe sieben Alias-Namen benutzt und unter verschiedenen Namen Asylanträge gestellt. Nach seiner Ankunft in Deutschland Ende Juli 2015 pendelte er demnach zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin, für ihn zuständig gewesen sei bis zuletzt die Ausländerbehörde in Kleve in Nordrhein-Westfalen. Bereits Mitte 2015 soll den Angaben Akmanns zufolge ein Kontakt Amris zum IS durch das LKA in Nordrhein-Westfalen beobachtet worden sein.

Amri beabsichtigte dem Staatssekretär zufolge aber offenbar, nach Berlin zu ziehen. Es habe zudem den Verdacht gegeben, dass er versuchen wollte, sich in der französischen Islamistenszene großkalibrige Schnellfeuergewehre zu beschaffen. Als der Verdacht nicht erhärtet werden konnte, seien die Überwachungsmaßnahmen eingestellt worden. "Man musste feststellen, dass sie nichts erbracht hatten", sagte Akmann. Innensenator Geisel sagte mit Blick auf diesen Vorlauf, dass der Datenaustausch zwischen den Behörden hinterfragt und über Konsequenzen nachgedacht werden müsse.

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SZ vom 24.12.2016
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