Innenpolitik :Nach der Lüge

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Gerade noch dachte die Führung des Landes, das Volk wieder hinter sich zu haben. Und nun dieses Desaster - sechs Wochen vor der Parlamentswahl.

Von Paul-Anton Krüger

Dieses Foto wurde am Wochenende vom Präsidialamt der Ukraine via Facebook verbreitet. Es zeigt nach Angaben der Staatsführung in Kiew das Cockpit der abgeschossenen Boeing-Maschine. (Foto: Präsidialamt der Ukraine)

Von psychologischer Kriegsführung gegen Iran sprach Regierungssprecher Ali Rabiei. "Niemand wird die Verantwortung für eine derartig große Lüge übernehmen, wenn herauskommt, dass die Behauptung betrügerisch war", sagte er noch am Freitag. Er meinte die Berichte westlicher Medien, die unter Berufung auf US-Geheimdienstquellen sowie Indizien meldeten, dass Flug PS 752 wahrscheinlich von der iranischen Luftabwehr abgeschossen worden sei. Nur Stunden später wird klar: Gelogen hat die iranische Regierung. Und ob dafür jemand die Verantwortung übernehmen wird, ist fraglich.

Tausende Demonstranten fordern am Samstag genau das. In Teheran skandieren Studenten: "Rücktritt ist nicht genug! Strafverfolgung muss sein!" oder "Tod den Lügnern!" Es sind Sprechchöre, die sich gegen den Obersten Führer Ali Chamenei und die mächtigen Revolutionsgarden richten, die in Iran für gewöhnlich jeder Kritik enthoben sind. "Unser Feind ist im Inneren, nicht die USA!", schallt es durch die Straßen. Angekündigt war eine Mahnwache für die 176 Opfer, zu der kurz auch der britische Botschafter Rob Macaire erschien. Doch bald bricht sich die Wut Bahn.

Die Demonstranten wissen um das Risiko. Die Polizei löste die Versammlungen diesmal mit Tränengas und Wasserwerfern auf. Aber die Staatsmacht hatte erst vor wenigen Wochen demonstriert, dass sie Widerstand gegen das Regime mit Gewalt begegnet, die Revolutionsgarden und die von ihnen kontrollierte Freiwilligen-Miliz der Bassidsch vorneweg. Hunderte Iraner haben mit dem Leben bezahlt, nach manchen Schätzungen sogar 1500, als das Regime die landesweiten Proteste gegen eine drastische Erhöhung der Benzinpreise niederschlagen ließ.

Millionen Menschen, längst nicht nur Anhänger des Regimes, trauerten um Soleimani

Der Abschuss einer Passagiermaschine, die überwiegend Iraner und Menschen mit iranischen Wurzeln an Bord hatte, ist innen- wie außenpolitisch ein Desaster für die Islamische Republik. Gerade hatte die Tötung des Revolutionsgarden-Generals Qassim Soleimani der Staatsführung um Chamenei erlaubt, die Reihen zu schließen. Millionen säumten bei den Trauerzügen die Straßen - und längst nicht alle, die sich über diesen Angriff empörten, waren glühende Anhänger des Regimes. Die Revolutionsgarden demonstrierten Stärke und Furchtlosigkeit, feuerten 22 Raketen auf Militärstützpunkte im Irak, die von den Amerikanern genutzt werden.

Wehrhaftigkeit und die bedingungslose Bereitschaft, die Besten für den Schutz der Islamischen Revolution zu opfern - das ist der Mythos der Revolutionsgarden, der neues Feuer erhielt durch den Tod Soleimanis. "Schwere Rache" hatte Chamenei danach geschworen - diese aber hätte er "an den USA üben sollen, nicht am Volk", heißt es nun in den sozialen Medien, wo Iraner noch am ehesten ihre politische Meinung öffentlich kundtun können.

Ein Chefredakteur, der den Revolutionsgarden nahesteht, äußert schwere Vorwürfe

Nur wenige Wochen vor einer für das Regime und Irans politische Ausrichtung bedeutenden Parlamentswahl müssen die Revolutionsgarden öffentlich schwerste Fehler eingestehen; jene Institution, die einen Staat im Staate bildet, große Teile der iranischen Wirtschaft kontrolliert, nur dem Obersten Führer verantwortlich ist, nicht der Regierung. Rechenschaft über ihr Tun legt sie abgesehen von seltenen Reden ihrer Kommandeure öffentlich nicht ab; ihre Offiziere leben abgeschottet in eigenen Stadtvierteln, genießen Privilegien, die viele Iraner als ungerechtfertigt empfinden.

Sie muss sich nun rechtfertigen, wie es der Luftwaffen-Befehlshaber der Revolutionsgarden, Brigadegeneral Amir Ali Hadschisadeh, bei einer Pressekonferenz in Teheran versucht. Ihm untersteht die Luftabwehr, aber auch die Raketentruppen befehligt er. Von einem ungewollten Abschuss spricht er, und davon, dass er lieber gestorben wäre, als dies erleben zu müssen. Höherstehende Institutionen und die Justiz würden über die Folgen bestimmen. "Wir sind bereit, jede Entscheidung zu akzeptieren und übernehmen die volle Verantwortung", sagte er.

Präsident Hassan Rohani entschuldigt sich für den "desaströsen Fehler", ruft den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij an, und den kanadischen Premier Justin Trudeau. Rohani hatte mit Blick auf die Drohungen von US-Präsident Donald Trump vor wenigen Tagen noch getwittert, wer die Zahl 52 nenne - so viele Ziele hatten die USA laut Trump im Visier, denn so viele US-Diplomaten waren 1979 in der amerikanischen Botschaft in Teheran als Geiseln genommen worden -, solle die Zahl 290 nicht vergessen. So viele Passagiere waren an Bord von Iran-Air-Flug 655, den der US-Lenkwaffenkreuzer Vincennes 1988 über dem Persischen Golf abgeschossen hatte. In der iranischen Propaganda wurde der Vorfall stets als Beleg für moralische Verkommenheit der USA angeführt.

Chamenei beließ es bislang bei einer Beileidserklärung. Iranische Staatsmedien verbreiten, er habe eine Untersuchung angeordnet und angekündigt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Er sei aber erst am Freitag informiert worden, dass die ukrainische Boeing 737-800 tatsächlich von den Revolutionsgarden abgeschossen worden sei - nachdem der Generalstab eine interne Untersuchung abgeschlossen habe. In Iran glaubt das allerdings kaum jemand, vor allem nicht nach der Aussage des Revolutionsgarden-Generals Hadschisadeh, er habe die militärische Führung bereits am Mittwochmorgen über den Abschuss unterrichtet.

Mehdi Karrubi war 2009 der reformistische Anführer der niedergeschlagenen Grünen Revolution. Er wird immer noch ohne Urteil im Hausarrest gehalten. Nun erklärte er, Chamenei habe nicht mehr die moralische Qualifikation, Oberster Führer zu sein. Der Verfassung nach stellt dieser sicher, dass sämtliches staatliches Handeln in der Islamischen Republik den Geboten des Islam genügt. Selbst aus konservativen Kreisen, die eigentlich hinter Chamenei und den Revolutionsgarden stehen, kommt scharfe Kritik. Kian Abdollahi, Chefredakteur der Nachrichtenagentur Tasnim, die als Sprachrohr der Garden gilt, sagte, die Öffentlichkeit zu belügen sei "ebenso katastrophal" wie die Flugzeugtragödie - und forderte, alle beteiligten Regierungsmitarbeiter zu bestrafen.

Am 21. Februar wählen die Iraner ein neues Parlament. Bislang konnten sich die Ultrakonservativen Hoffnungen machen, die Mehrheit zu erobern. Nach dem Tod Soleimanis hoffte das Regime auf eine hohe Wahlbeteiligung, die es unabhängig von den Ergebnissen als Ausweis der Legitimität des politischen Systems wertet. Nun aber ruft der Abschuss den Iranern die Inkompetenz und das Missmanagement ins Gedächtnis, die viele dem Regime auch bei der Steuerung der maroden Wirtschaft anlasten. Der Abschuss erschüttert jene Reste an Vertrauen in das System, die sie vielleicht noch hatten - etwa, dass es die Sicherheit des Landes gewährleiste. Es ist denkbar, dass der Abschuss und der Umgang damit die Islamische Republik in eine Krise stürzt, die sich nicht durch die angekündigte Reform des Militärs lösen lässt.

© SZ vom 13.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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