Innenministerkonferenz:Bitte nicht rempeln

Bundespolizei testet Bodycams am Münchner Hauptbahnhof, 2016

Beamte als Prügelknaben? Ein Bundespolizist mit mobiler Körperkamera.

(Foto: Florian Peljak)

Die Länder wollen die Gewalt gegen Polizisten künftig schärfer ahnden. Doch nehmen diese Taten wirklich zu und werden immer schlimmer? Die Statistik bietet da erstaunliche Aufschlüsse.

Von Ronen Steinke, Mettlach

Die Aggressivität gegen Polizisten nehme zu, so liest und hört man immer wieder. Beamten würden immer häufiger bespuckt, getreten, geschlagen. Um sich vor die Polizisten zu stellen, präsentierte die Konferenz der deutschen Innenminister am Freitag eine gemeinsame Initiative für eine Verschärfung des Strafrechts - was zwar zunächst nur ein Vorschlag ist, gerichtet an den Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), aber auch ein bemerkenswerter Erfolg der Polizeigewerkschaften, die seit Jahren stets dasselbe wiederholt haben: Die Gewalt nehme zu. Die Polizei sei zum Prügelknaben der Nation geworden.

Die Politik schaue weg. Schon einmal, 2009, forderte die Innenministerkonferenz daraufhin, dass man den Tatbestand des "Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte" (Paragraf 113 Strafgesetzbuch) verschärfe; damals mit Erfolg. Nun legt sie nach. Die Minister, die sich im Saarland trafen, wollen den Paragrafen zugleich weiter verschärfen und ausweiten. Verschärfen, indem eine Mindeststrafe von sechs Monaten eingeführt wird. Das klingt nach wenig, wäre aber viel - denn der Begriff des "Widerstands" umfasst nicht nur Gewalt, sondern auch alles mögliche andere, was Polizisten die Arbeit erschwert, vom lautlosen Sitzenbleiben über das Gegen-die-Laufrichtung-Stemmen. Für all das gäbe es sechs Monate Haft Minimum, wenn der Innenminister-Vorschlag Gesetz würde.

Schon die Störung einer Streifenfahrt soll als Widerstand gewertet werden

Erweitert werden soll der Widerstands-Paragraf, indem er nicht mehr voraussetzt, dass ein Beamter speziell bei einer "Vollstreckungshandlung" gestört wird, also zum Beispiel bei einer Festnahme oder Verkehrskontrolle. Sondern es wäre dann auch "Widerstand", wenn der Täter zum Beispiel eine Streifenfahrt stört. Dabei werden Gewalttaten gegen Polizisten heute ohnehin über einen anderen, schärferen Paragrafen verfolgt - Körperverletzung. Der allgemeine "Widerstands"-Paragraf verschwindet dahinter. Das heißt: Wo Staatsanwälte noch den alten "Widerstands"-Paragrafen brauchen, geht es nie um Gewalt. Wo es um Gewalt geht, brauchen sie den Paragrafen nicht.

Die Gewalt nimmt zu? Um das zu untermauern, verweist die Gewerkschaft der Polizei auf einen Lagebericht des Bundeskriminalamts (BKA) aus dem Jahr 2014. Das war das Jahr, in dem die Zahl der "Widerstands"-Delikte gegen Polizisten um anderthalb Prozent anstieg. Im Jahr zuvor allerdings war die Zahl gerade um zehn Prozent gesunken, und auch aufs Ganze betrachtet weist die Tendenz nach unten, seitdem damit begonnen wurde, "Widerstands"-Delikte gegen Polizeibeamte in der polizeilichen Kriminalstatistik speziell zu zählen.

Damals, im Jahr 2010, waren es 21 498; zuletzt noch 20 258. Um mehr Licht ins Dunkel der gefühlt wachsenden Gewaltbedrohung zu bringen, rücken Polizeipräsidien und Forscher seit Jahren mit Fragebögen aus. Mit allen Schwierigkeiten: "Es liegt nahe, dass sich Beamte, die Einschlägiges erlitten haben, eher an einer solchen Umfrage beteiligen als nicht betroffene", gibt der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Freien Universität Berlin zu bedenken. Das einzige unabhängige Institut, das trotzdem versucht hat, mit den eigenen Erhebungen der Polizei Schritt zu halten, ist das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN). Mit einem Ergebnis, das allerdings nicht so alarmierend ausfiel: 2010 befragten die KFN-Forscher 21 000 Polizeibeamte - auf freiwilliger Basis - mithilfe eines Online-Fragebogens nach deren Erfahrungen zwischen 2005 und 2009. Schwere Übergriffe, so das Ergebnis, hatten nicht kontinuierlich zugenommen.

Nur in der leichtesten Kategorie der Gewalt maßen die Forscher einen Anstieg: Befragt nach kleinen Rempeleien hatten sich die Polizisten an 93,5 Prozent mehr Vorfälle aus dem zurückliegenden Jahr 2009 erinnern können als aus dem Jahr 2005. Vielleicht, so schränkten die Kriminologen aber ein, war das auch bloß ein Beispiel für die Funktionsweise des Gedächtnisses? Eine leichte Rempelei, die schon vier Jahre zurückliegt, erinnert man nicht mehr so oft. Eine, die noch frisch ist, eher.

Es kam zum Streit, die KFN-Forscher flogen in einigen Bundesländern aus den Kommissariaten. Seither bekommen die Forscher keinen Zugang mehr. Als der KFN-Kriminalpsychologe Thomas Bliesener vor drei Jahren noch einmal einen Anlauf unternahm, Beamte zu ihren Gewalterfahrungen zu befragen, blieben ihm die Türen verschlossen. Er war auf 16 externe Mitwirkende angewiesen, deren Namen man in seiner Studie heute eingeklemmt zwischen Akronymen findet: vorne PHK oder POKin (Polizeihauptkommissar, Polizeioberkommissarin), hinten PP oder LKA (Polizeipräsidium, Landeskriminalamt); ihr Auftraggeber war die Polizeiakademie des Landes Nordrhein-Westfalen.

Der Düsseldorfer Innenminister Ralf Jäger beklagt eine schockierende Aggressivität

Es ist die bislang letzte Studie gewesen. Ihr Fazit: 50 Prozent der Polizisten, die sich freiwillig zur Umfrage gemeldet hatten, hätten im vergangenen Jahr mindestens einen tätlichen Angriff erlebt. Unter den Begriff der Gewalt fasste die Untersuchung allerdings auch "verbale Provokation" sowie das "Foto- beziehungsweise Videografieren"; beides nicht zwingend illegal. Die Autoren schreiben: "Wie hier deutlich wird, ist Gewalt ein sehr vielschichtiger Begriff." Und sie stellen selbst klar, dass ihre Untersuchung nicht repräsentativ sei. "Dies wäre bei einer Anzahl von 36 Interviews ohnehin nicht realisierbar gewesen." Das Land Nordrhein-Westfalen beschäftigt etwa 45 000 Polizeibeamte.

"Wenn man diese individuellen Schilderungen der Polizeibeamten liest, bekommt man einen schockierenden Eindruck", sagt der Düsseldorfer Innenminister Ralf Jäger (SPD), "es gibt ein hohes Niveau der Aggression, eine erschreckende Respektlosigkeit." Aber einen Anstieg? "Gott sei Dank gibt es einen Rückgang."

Ein SPD-Kollege aus einem anderen Land drückt sich, nachdem wieder eine Innenministerkonferenz die angebliche wachsende Polizeifeindlichkeit angeprangert hat, distanzierter aus: "Es ist ein Phänomen, das in der politischen Debatte eine sehr große Prominenz bekommen hat."

Es gibt dann auch die zurückhaltenderen Stimmen innerhalb der Polizei. Beamte wie Udo Behrendes etwa, bis 2013 Leiter des Planungsstabes beim Polizeipräsidium in Köln, der bei einem Vortrag bei Amnesty International in Berlin vorrechnete: "99,85 Prozent aller Einsätze verliefen ohne körperliche oder verbale Gewalt gegen die Polizei." Durchgesetzt haben sie sich nicht.

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