Wenn Joe Biden an die Anfänge jenes Gesetzes zurückdenken sollte, mit dem er jetzt Regierungen und Unternehmen in aller Welt verrückt macht, dann dürfte das vor allem die Erinnerung an eine schmerzliche Niederlage sein. Eigentlich nämlich hatte der US-Präsident sein Land mit einer Umwelt-, Sozial- und Gesundheitsreform beglücken wollen, wie sie die Vereinigten Staaten noch nie gesehen hatten: mit vielen Hundert Neuerungen, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bis zur dauerhaften Einführung einer Art Kindergeld. Gesamtkosten: unglaubliche 3,5 Billionen Dollar.
Für derlei Gigantismus, ja für eine regelrechte Sozialdemokratisierung der USA jedoch fand er nicht einmal in den eigenen Reihen eine Mehrheit. Am Ende blieben von der Billionensumme "nur" 485 Milliarden Dollar übrig, zudem passten Bidens Kommunikationsprofis den Titel des Gesetzes rasch an die aktuelle politische Problemlage an. Aus "Build Back Better", also der Idee, das Land neu und besser wiederaufzubauen, wurde der "Inflation Reduction Act", das "Inflationssenkungsgesetz". Dabei hatte der Kampf gegen den dramatischen Preisanstieg bei den Reformplänen ursprünglich gar keine Rolle gespielt.
Nach der kräftigen Schrumpfkur im Kongress besteht das Gesetz nun faktisch aus nur noch zwei Teilen. Im ersten, kleineren Abschnitt geht es um gesundheitspolitische Neuerungen wie die bessere Versorgung ärmerer Bürger mit Impfstoffen und Subventionen für Menschen, die sich aus eigener Kraft keine Krankenversicherung leisten können. Kostenpunkt auf zehn Jahre gerechnet: 98 Milliarden Dollar.
Ziel ist es, den Ausstoß von Treibhausgasen deutlich unter das Niveau des Jahres 2005 zu drücken
Der sehr viel größere, in Europa, Asien und Südamerika zugleich heftig umstrittene klimapolitische Teil sieht Investitionshilfen, Steuergutschriften und Abschreibungen im Gesamtumfang von 386 Milliarden Dollar vor. Sie sollen unter anderem in den Ausbau erneuerbarer Energien, eine wettbewerbsfähige E-Auto- und Batterie-Branche sowie eine hochmoderne Wasserstoffindustrie fließen. Ziel ist es, den Ausstoß umweltschädlicher Treibhausgase bis 2030 mindestens 40 Prozent unter das Niveau des Jahres 2005 zu drücken. Die im Bereich grüner Technologien spät gestarteten USA sollen so gewissermaßen mit der Brechstange an die Weltspitze gehievt werden.
Um beides zu erreichen, ist die Auszahlung der Subventionen in vielen Fällen an die Auflage geknüpft, die betroffenen Produkte ganz oder teilweise in den USA herzustellen. Während sich vor allem Europa dadurch massiv benachteiligt sieht, war und ist dieser Punkt in der inneramerikanischen Diskussion allenfalls ein Randthema. Kein Wunder: Die Stärkung und Abschottung der heimischen Industrie, notfalls unter Beugung oder Umgehung internationaler Vereinbarungen, ist einer der wenigen politischen Bereiche, in denen Bidens Demokraten und die Republikaner zumindest prinzipiell einer Meinung sind.
Allein für den Ausbau der Solar-, Wind-, Wasser-, Biomasse- und Atomstromproduktion können Firmen Steuergutschriften im Gesamtvolumen von rund 160 Milliarden Dollar erhalten. Hinzu kommen 37 Milliarden Dollar für Industriefabriken, die von fossilen auf erneuerbare Energieträger umsteigen. Auch die Autobauer zählen zu den Hauptprofiteuren. Hersteller, die neue Werke bauen oder bereits bestehende zu Produktionsstätten für Elektrofahrzeuge umrüsten, werden ebenso kräftig gefördert wie etwa die Betreiber oder Produzenten von Ladestationen, grünem Wasserstoff und sauberen Kraftstoffen.
Doch es ist nicht nur die Industrie, die großzügig bedacht wird. Auch Familien können mit Beihilfen oder Vergünstigungen etwa für den Kauf einer Wärmepumpe oder einer Solaranlage rechnen. Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen sollen zudem Steuergutschriften von bis zu 7500 Dollar für den Kauf eines neuen und von maximal 4000 Dollar für den Erwerb eines gebrauchten E-Autos erhalten. Voraussetzung für die Zahlung der vollen Neuwagenprämie ist allerdings, dass der Pkw in den USA endmontiert ist. Batterien müssen zudem bestimmte Mengen an Metallen enthalten, die entweder im Inland recycelt oder in einem Staat gefördert wurden, der über ein Handelsabkommen mit den USA verfügt. Auch dürfen Akkukomponenten von 2025 an nicht mehr aus Ländern wie China stammen oder dort recycelt werden, was viele Pkw-Hersteller zumindest kurzfristig vor große Probleme stellen wird.
Die Pläne stellen deutsche Autobauer vor neue Schwierigkeiten
Von einem Teil der Regeln ausgenommen sind nur Kanada und Mexiko, da beide Länder für die US-Autoproduktion eine zentrale Rolle spielen. Auf deutsche Hersteller und Zulieferer hingegen kommen mit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar Schwierigkeiten zu. Zwar betreiben BMW, Mercedes und Volkswagen in den USA große Werke, sie stellen aber längst nicht alle Modelle ihrer Angebotspalette in den Vereinigten Staaten her. Auch andere Branchen haben mit derlei Problemen zu kämpfen: Betreiber von Windparks etwa sollen nur dann in den Genuss der vollen Subventionen kommen, wenn sie beim Bau der Windräder in ausreichendem Maße amerikanischen Stahl verwenden.
Ihre durchschlagende Wirkung stellte die Reform bereits in den ersten Tagen nach der Verabschiedung in Senat und Repräsentantenhaus Mitte August unter Beweis: Eine ganze Reihe von Firmen kündigte mit Blick auf das Inflationssenkungsgesetz Milliardeninvestitionen in den USA an, darunter internationale Größen wie Toyota, Honda, LG, Panasonic und First Solar. Dabei müssen die Firmen nicht einmal befürchten, dass die Fördertöpfe leer sein könnten, wenn sie sich nicht beeilen. Im Gegenteil: Die Gesamtsumme der Steuergutschriften ist nicht gedeckelt, es wird also gezahlt, solange es Nachfrage gibt. Die Großbank Credit Suisse prognostiziert bereits einen regelrechten Ansturm auf die Hilfen: Nach ihrer Schätzung könnten die Kosten für den Steuerzahler am Ende doppelt so hoch ausfallen wie bisher erwartet.