INF-Vertrag:"Der Schutzschirm über Europa wird löchrig"

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Test einer russischen Iskander-K-Rakete: Westliche Regierungen vermuten, dass die ballistische Boden-Boden-Rakete gegen den INF-Vertrag verstößt. (Foto: AP)

Russland und die USA streiten sich seit Monaten über den INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenwaffen. Politologe Carlo Masala erklärt, wieso Moskau nicht einlenkt.

Interview von Matthias Kolb, Brüssel

Die Unterzeichnung des INF-Vertrags war eine Sensation: Die USA und die Sowjetunion einigten sich 1987 darauf, mit Mittelstreckenraketen eine komplette Waffengattung abzuschaffen. Seither ist beiden Staaten der Besitz von landgestützten Raketen und Marschflugkörpern mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern verboten - egal ob die Sprengköpfe atomar oder konventionell bestückt sind. Hauptprofiteur des Abrüstungsvertrags ist Europa - und hier ist auch die Sorge am größten, dass das Abkommen 2019 seine Gültigkeit verliert. Die USA werfen Russland seit Jahren vor, mit dem Marschflugkörper 9 M729 den Vertrag zu brechen. Die 29 Nato-Staaten haben sich dieser Haltung angeschlossen.

Am Samstag endet offiziell eine 60-tägige Frist, die die US-Regierung Russland gesetzt hat. Mehrere US-Medien berichten übereinstimmend, dass Außenminister Mike Pompeo den Ausstieg der USA schon am heutigen Freitag verkünden wird. Für Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München ist dies keine Überraschung. Wie nahezu alle Experten hat er nicht erwartet, dass Moskau seine Raketen, welche die Nato als SSC-8 bezeichnet, abbaut und verschrottet. Wenn Washington den Ausstieg aus dem INF-Vertrag verkündet, wäre dieser nach sechs Monaten ungültig. Im SZ-Interview erklärt der Professor für internationale Politik, welche Folgen diese Entwicklung für Europas Sicherheit haben könnte - und wieso er in den Debatten hierzulande oft "deutsche Romantik" und wenig Realitätssinn erkennt.

SZ: Herr Professor Masala, morgen läuft das 60-tägige Ultimatum Washingtons an Moskau ab. Ist der INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenwaffen noch zu retten?

Carlo Masala: Ich bin sehr skeptisch. Erstens sehe ich bei Russland nicht die Bereitschaft, die Verstöße, die man ihnen vorwirft, glaubhaft aus dem Weg zu räumen. Sie können weder belegen, dass sie den INF-Vertrag nicht brechen - und sie sind nicht bereit, die SSC-8-Raketen abzubauen und zu verschrotten. Zweitens lehnt John Bolton, der Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, Rüstungskontrollverträge aus voller Überzeugung ab. Drittens kommt Außenminister Heiko Maas seinem Ziel nicht näher, das Verbot von Mittelstreckenwaffen zu globalisieren. Dafür sehe ich bei China, Indien und Pakistan keinerlei Bereitschaft.

Der INF-Vertrag ist zentral für Europas Sicherheitsarchitektur. Was wäre künftig anders?

Die neue Dimension wäre folgende: Wir hätten russische Mittelstreckenraketen, die sowohl mit konventionellen als auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden können - und im Ernstfall würde man erst beim Einschlag der Rakete wissen, ob es ein atomarer Angriff war. Das ist eine schlimme Situation für alle Länder, die in der Reichweite dieser Raketen sind - und das ist die komplette EU. Zudem fehlt uns die Antwort auf die Eskalation. Zur Verfügung stehen nur Interkontinentalraketen, die in den USA stationiert sind. Damit auf eine Aggression mit Mittelstreckenraketen zu reagieren, wäre recht unglaubwürdig. Der nukleare Schutzschirm, den die USA über Europa aufgespannt haben, wird also löchrig. Moskau könnte europäische Staaten durch diese Raketen erpressen, die transatlantische Sicherheit wäre teilbar.

Heiko Maas versucht mit einer Pendeldiplomatie zwischen Moskau und Washington, den Vertrag zu bewahren. Warum ist der Außenminister bisher gescheitert?

Zunächst darf man nicht vergessen, dass der Verdacht der russischen Vertragsverletzung schon von Barack Obama angesprochen wurde. Die Europäer haben das schlicht ignoriert, sie sind erst aufgewacht, als Trump im Oktober den Ausstieg aus dem INF-Vertrag ankündigte. Das größte Problem an der Diplomatie von Heiko Maas liegt darin, dass er eine Option kategorisch ausschließt: auf den Bruch des Abkommens mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen zu antworten. Ohne diese Drohung gibt es für Moskau null Anreize, in den Vertrag zurückzukehren. Im pazifischen Raum ist es komplizierter, weil Indien und Pakistan die Mittelstreckenraketen nutzen, um sich gegenseitig in Schach zu halten - für die gibt es keinen Grund, sich beschränken zu lassen. Gleiches gilt für China. Es ist ja vernünftig, mit Russland verhandeln zu wollen, aber wir schwächen unsere Position unnötigerweise selbst.

Carlo Masala, 50, lehrt Internationale Politik an der Bundeswehr-Universität München, einer unabhängigen Hochschule. Er gehört zum Team von "Sicherheitshalber", dem ersten deutschsprachigen Podcast über Sicherheitspolitik. (Foto: privat)

Sie haben kürzlich in einem Gastbeitrag beklagt, dass die europäische Debatte über den INF nichts mit den politischen und strategischen Realitäten zu tun habe.

Mich stört dieses Ignorieren von Optionen. In Deutschland gehen viele von der Annahme aus, dass kein Staat Interesse an der Stationierung von Mittelstreckenraketen haben könne. Das halte ich für unrealistisch, wie die Beispiele China, Indien und Pakistan zeigen. Und mich stört, dass von Beginn an Optionen ausgeschlossen werden, die wichtig wären, um Russland diplomatisch zu Bewegungen zu zwingen. Ich erkläre mir das mit zwei Gründen, die innenpolitisch unbequem sind: Das ist erstens die wohl richtige Annahme, dass eine solche Diskussion in Deutschland nicht zu führen ist, weil die Mehrheit der Bevölkerung nicht mitmacht. Zweitens würde eine solche Androhung bedeuten, dass man im Falle eines russischen Nichteinlenkens auch wirklich Raketen stationieren müsste.

Dann wäre Europa mitten drin in der Phase eines nuklearen Aufrüstens, woran niemand ein Interesse hat.

Natürlich, allerdings ist zu bedenken, dass im Falle eines Kollapses des INF-Vertrags die Wahrscheinlichkeit einer Verlängerung des "New Start"-Abkommens 2021 dramatisch sinkt. Und der regelt die strategische, nukleare Stabilität zwischen Moskau und Washington. Wenn wir aber kein Verbot von Mittelstreckenraketen und kein Abkommen über strategische Stabilität haben, hat sich die Welt mit Blick auf Nuklearwaffen dramatisch verändert. Dann gibt es keine Regeln mehr. Hierzulande sind wir aber sehr kurzsichtig, in der deutschen Debatte fehlt es an Realismus.

Die Linke will die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf dem Gebiet der Nato ausschließen und die Grünen fordern ein Ende der "nuklearen Teilhabe". Ist das prinzipientreu oder naiv?

Das ist deutsche Romantik, das hat nichts mit Prinzipien zu tun. Die Aussage der Grünen-Chefin Annalena Baerbock war völlig daneben. Als Reaktion auf die russischen Mittelstreckenraketen den Abzug von taktischen Atomwaffen zu fordern, zeugt vor allem von einer totalen Unkenntnis. Die taktischen Nuklearwaffen tragen zu dieser Eskalation nichts bei und haben mit der Diskussion über Mittelstreckenraketen nichts zu tun.

In der Öffentlichkeit wird US-Präsident Trump für das Scheitern verantwortlich gemacht, weil er im Wahlkampf im Oktober den Ausstieg verkündete. Belastet diese Wahrnehmung die Diskussion?

Das ist natürlich ein Problem, wobei die Amerikaner anschließend auf eine Werbetour durch Europa gegangen sind und Parlamente und Ministerien umfangreich informiert haben. Auf der offiziellen Ebene wurde der Narrativ gedreht, da ist vielen nun klar, dass Trump hier nichts Verrücktes macht, sondern dass die Russen seit Jahren den Vertrag verletzen und dutzendfach aufgefordert wurden, dies einzustellen. Aber natürlich wäre es besser gewesen, wenn Trump seinen Schritt den Nato-Partnern zumindest vorab mitgeteilt oder man sich idealerweise ein koordiniertes Vorgehen überlegt hätte. Wenn wir mal eine Nachrüstungsdebatte haben sollten, wäre die schwierig zu führen, denn alle in Europa wissen, dass man diesem Mann im Weißen Haus nicht vertrauen kann.

Die Nato ist nicht offizieller Vertragspartner, aber natürlich wichtiger Akteur, weil sie ja Europas Sicherheit garantieren soll. Wolfgang Ischinger, der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, sieht die Militärallianz in der Krise und sagt "Schlimmer konnte es nicht kommen." Droht wegen des INF-Debakels eine Spaltung der Nato?

Ich glaube nicht, dass die Allianz zerbricht, aber es droht die Verstärkung der bestehenden Dysfunktionalität. Wenn nämlich die Nachrüstungsdebatte beginnen sollte und Polen sowie die baltischen Staaten bereit wären, Mittelstreckenraketen bei sich zu stationieren, ohne Unterstützung von Deutschland, Frankreich oder Spanien zu erhalten, dann würde die Nato ihr Kernprinzip der Solidarität aufgeben. Es gäbe dann zwei Sicherheitszonen in der Nato, weil die Bedrohungswahrnehmung so unterschiedlich wäre. Das wäre schlimm, denn die Allianz ist politisch ohnehin geschwächt, weil Trump und US-Außenminister Mike Pompeo öffentlich Zweifel an der amerikanischen Sicherheitsgarantie erkennen lassen. Wenn sich Trump entschließen sollte, die neue Lage nach dem Kollaps des INF allein auf bilateraler Ebene zu regeln, dann hätte die Nato ihre Aufgabe als zentrale Koordinationsinstanz von Verteidigungspolitik verloren.

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