Süddeutsche Zeitung

INF-Vertrag:Atomwaffen stabilisieren nicht, sie destabilisieren

Besonders dann, wenn sie als einzuplanende militärische Mittel verstanden werden. Die Kündigung des INF-Vertrages zeigt die Wiederkehr solchen Denkens.

Kommentar von Kurt Kister

Seit den Zeiten des Kalten Krieges ist die Nuklearstrategie in einem kontinentübergreifenden Milieu von Politikern, Offizieren, Wissenschaftlern und Diplomaten ein Fachgebiet, in dem ausgefeilte Theorien eine wahnwitzige Wirklichkeit rationalisieren sollen. Diese Wirklichkeit hat es nur einmal in Hiroshima und Nagasaki gegeben. Ratio aber, also Vernunft, gibt es nicht im Zusammenhang mit dem Einsatz von Atomwaffen; die Macht der Bombe liegt nun einmal in ihrer ultimativen Schrecklichkeit.

Staaten besitzen sie letztendlich, weil sie potenzielle Feinde mit der Möglichkeit millionenfacher Vernichtung bedrohen wollen, um so ihre eigene Existenz zu sichern. Das trifft zu im Falle der USA, Russlands und Chinas, den großen Nuklearmächten. Aber es gilt auch für jene, deren nukleares Arsenal kleiner ist, wie Frankreich, Pakistan und Indien oder Israel.

Die überwunden geglaubte Vergangenheit kehrt zurück

Im lange schwelenden Konflikt zwischen Nato und Warschauer Pakt entwickelten beide Seiten nukleare Doktrinen, denen unter anderem der Glaube an die "Begrenzbarkeit" eines Krieges mit Atomwaffen zugrunde lag; im Prinzip gelten diese Doktrinen, wenn auch verändert, bis heute. Man sinnierte über atomare "Warnschüsse", über eine "abgestufte Antwort" bis hin zum "Enthauptungsschlag". Zu den Theorien passte das Arsenal: Von der Atomgranate für Geschütze über Kurzstreckenraketen bis zur Interkontinentalrakete mit einem Dutzend Sprengköpfen gab es alles (und gibt es immer noch vieles), was für "flexible Antwort" oder "massive Vergeltung" nötig zu sein schien.

Fast hätte man glauben können, dass diese Ära vorbei sein könnte, in der der eine immer jene Waffen auch haben wollte, von denen er glaubte, der andere habe sie schon. Verträge unterbrachen den Teufelskreis von Rüstung und Nachrüstung, und diese Atempausen führten immerhin dazu, dass das einst von Atomwaffen starrende Deutschland, Ost wie West, bis auf zwei Dutzend Bomben auf einem Fliegerhorst heute atomwaffenfrei ist.

Jetzt aber, mit dem Vormarsch des aggressiven Nationalismus auch in Russland und in den USA, wird man Zeuge eines Atom-Atavismus. Atavismus bedeutet, dass Merkmale einer überwunden geglaubten Vergangenheit wiederkehren. Moskau scheint Flugkörper zu produzieren, die gegen das INF-Abkommen verstoßen; Washington kündigt als Reaktion dieses Abkommen und wird, zumindest ist das zu befürchten, "nachrüsten". 1978 lässt grüßen, als habe es 1989 nie gegeben.

Neue Atomwaffen in Deutschland wird es nicht geben

Weil die Nachrüstungsdebatte vor vierzig Jahren vielen Deutschen drastisch vor Augen führte, dass ihr Land, noch geteilt in BRD und DDR, im Kriegsfall Atomwüste werden könnte, führte dies zu jahrelangem, hitzigem Streit, der die Gesellschaft veränderte, so wie es zuvor nur die 68er-Bewegung getan hatte. Auch deswegen sollte und wird keine deutsche Regierung heute der Stationierung neuer Atomwaffen hierzulande zustimmen.

Atomwaffen stabilisieren nicht, sie destabilisieren. Dies trifft besonders dann zu, wenn sie als einzuplanende militärische Mittel verstanden werden. Ein solches Denken ist besonders gefährlich in einer Zeit, in der der US-Präsident das Bündnis mit Europa für obsolet, mindestens aber für unfair hält - und in der sich Moskau auf unterschiedlichste Weise bis hin zur hybriden Kriegsführung nationale Größe und Weltgeltung sichern möchte.

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SZ vom 02.02.2019/swi
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