Süddeutsche Zeitung

Protestkultur:Europa braucht eine neue Friedensbewegung

Die Vorstellung eines neuen Wettrüstens treibt bisher nur wenige Menschen auf die Straße. Dabei wäre der Protest so wichtig wie lange nicht mehr.

Kommentar von Ferdos Forudastan

Stell dir vor, Krieg wird auch hier wieder vorstellbar - und kaum jemand regt sich länger als ein paar Tage darüber auf. Gerade einmal eine Woche ist es her, dass zunächst Donald Trump und dann Wladimir Putin ihren Rückzug vom INF-Vertrag bekanntgegeben haben. Die Präsidenten der USA und Russlands läuten das Ende des zwischen beiden Ländern vereinbarten Verbots landgestützter atomarer Mittelstreckenraten ein - das hat kurz Aufregung in Politik und Medien verursacht, ist aber schon wieder aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerutscht.

Sollte die Diplomatie in den kommenden Monaten das Abkommen nicht doch noch retten, steht der Stationierung neuer Massenvernichtungswaffen in Europa zumindest kein Vertrag mehr im Weg; der Friede wird brüchiger werden. Doch von einem heftigen Ruck in der Gesellschaft, den diese Entwicklung auslösen könnte, ja: müsste, ist bislang nichts zu spüren. Es ist nicht absehbar, dass sich das in näherer Zeit ändert, dass Bürger in nennenswerter Zahl gegen die wachsende Bedrohung protestieren, dass die seit vielen Jahren schwächelnde Friedensbewegung einen kräftigen Schub erhält. Dabei wäre genau dies genau jetzt so wichtig wie lange nicht mehr.

Die einzelnen Friedensgruppen protestieren tapfer gegen die doppelte Kündigung des INF-Vertrags; Widerhall finden sie allerdings kaum. Schon richtig, es sind erst wenige Tage vergangen seit den Ankündigungen Trumps und Putins. Und ja, es braucht vielleicht noch einige Zeit, bis die Erkenntnis sich breitmacht, dass ein Europa ohne diesen Vertrag gefährdeter ist als mit ihm. Trotz alledem spricht derzeit nicht viel dafür, dass die Menschen demnächst massenhaft öffentlich gegen das protestieren werden, was zwei verantwortungslose Männer in Washington und Moskau beschlossen haben. Das hat ganz verschiedene Ursachen. Und nur an einigen davon ließe sich - wenn man es denn wollte - etwas ändern.

Gut und Böse lassen sich heute nur noch schwer zuordnen

Nichts ändern kann man daran, dass die Welt heute noch weniger übersichtlich zu sein scheint als in den 1980er-Jahren, dass Gut und Böse sich noch schwerer zuordnen lassen. Nicht ändern ließe sich auch, dass die Generation der Jüngeren, die am ehesten auf die Straße gehen würden, im Bewusstsein aufgewachsen ist, dass Kriege weit weg stattfinden, dass Europa von dieser Geißel verschont bleibt. Für die Friedensbewegung der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg noch sehr gegenwärtig. Viele der mehr als 300 000 Demonstranten im Bonner Hofgarten Anfang der 80er-Jahre waren mit den Geschichten ihrer Eltern oder Großeltern vom Krieg aufgewachsen und in den Jahren der Konfrontation zwischen West und Ost großgeworden. Ihr Protest gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen war auch getragen vom Gefühl der unmittelbaren Bedrohung. Die meisten jungen Menschen in Deutschland haben dieses Gefühl nicht, bisher jedenfalls nicht.

Mag sein, dass sich das ändert, wenn in sechs Monaten der INF-Vertrag endgültig Geschichte ist. Allein davon hängt es allerdings nicht ab, ob es bald wieder eine große, starke Bewegung geben könnte, die sich dagegen auflehnt, dass weitere Atomwaffen den Frieden in Europa bedrohen. Hinzukommen müsste jemand, an den man diesen Protest adressiert und der, ganz wichtig für die Mobilisierungskraft, möglichst nah ist. Vor rund 60 Jahren und vor fast 30 Jahren waren das die jeweiligen deutschen Regierungen. Wer heute gegen die Kündigung des INF-Vertrags auf die Straße ginge, der würde sich an Trump oder Putin abarbeiten, zwei Männern, denen herzlich egal sein dürfte, dass Bürger hierzulande gegen sie demonstrieren.

Jenseits der recht kleinen Gruppen von Friedensaktivisten wüchse der Widerstand wahrscheinlich erst dann, wenn die große Koalition ihren Streit darüber fortsetzen, ja intensivieren würde, ob man die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Betracht ziehen darf oder nicht. Gegen die eigene Bundesregierung - oder Teile von ihr - protestieren zu können, treibt für gewöhnlich viel mehr Menschen an als die Aussicht, gegen jemanden anzugehen, der weit weg und auf das Wohlwollen dieser Bürger nicht angewiesen ist.

Allerdings: Wer will, dass viele Bürger sich gegen eine atomare Nachrüstung Europas stemmen, der darf sich nicht alleine auf die vage Aussicht verlassen, dass ein Konflikt in der schwarz-roten Koalition die Massen mobilisieren würde. Es muss wesentlich mehr passieren, als dass ein paar CDU-Politiker sich für die Stationierung neuer Atomraketen aufgeschlossen zeigen, damit die Friedensbewegung irgendwann wieder aus mehr Menschen besteht als den Männern und Frauen, die Jahr für Jahr an den Ostermärschen teilnehmen oder gegen Rüstungsexporte demonstrieren.

Passieren muss etwas mit den Initiativen, die als Schaltstellen dieser Bewegung gelten. Auch wenn sie begonnen haben, sich zu verjüngen und sich mit manchem Sektierertum, das es hier und da in ihren Reihen gab, auseinanderzusetzen: Sie kommen nicht darum herum, diesen Prozess zu beschleunigen und zu intensivieren, um wieder mehr und vor allem junge Menschen anzusprechen. Wichtig wäre außerdem, dass große Organisationen wie Gewerkschaften oder Kirchen ihre Verbindung zu den Friedensgruppen wieder stärken, um deren Arbeit zu unterstützen.

Vor allem aber kommt es darauf an, dass die Bürger, denen eine wache und wahrnehmbare Friedensbewegung am Herzen liegt, sich als ihren Teil begreifen und in ihr engagieren. So schnell es eine Forderung wie die des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD), man brauche eine neue Friedensbewegung, in die Nachrichten schafft: Wenn man den gesellschaftlichen Protest gegen ein neues Wettrüsten im Wesentlichen dann ein paar wenigen in Ehren ergrauten Aktivisten überlässt, dann bleiben Appelle wie dieser nichts weiter als wohlfeil.

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SZ vom 09.02.2019/saul
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