Nun spricht auch der Nato-Generalsekretär offen vom "Untergang" des INF-Abrüstungsvertrags. Unermüdlich hatte Jens Stoltenberg seit einem Dreivierteljahr immer wieder an Russland appelliert, "zur Vertragstreue" zurückzukehren und die Marschflugkörper vom Typ 9M729 zu zerstören. Beim Antrittsbesuch von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Mittwoch verbirgt er dann nicht mehr, worauf man sich im Hauptquartier der Nato vorbereitet hat: Der 1987 von den USA und der Sowjetunion geschlossene Vertrag wird nach dem Ablauf der sechsmonatigen Frist aufgrund der Kündigung durch die USA an diesem Freitag ungültig werden.
Die Menschen in Europa profitierten am meisten davon, dass die beiden Supermächte des Kalten Kriegs sich 1987 darauf geeinigt hatten, eine komplette Klasse von Waffen abzurüsten. "Mit dem Ende des INF-Vertrags geht ein Stück Sicherheit in Europa verloren", bedauert nun Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). Der Vertrag verbot den USA und Russland ballistische Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern, egal ob sie konventionell oder nukleare Gefechtsköpfe hätten tragen sollen. Es waren Waffen wie die sowjetische SS-20-Raketen und die amerikanische Pershing II, die binnen Minuten jedes Ziel in Europa hätten erreichen können. Fast 3000 solche Raketen wurden zerstört.
An diesem Freitag will Stoltenberg in Brüssel nach der Bestätigung des INF-Endes durch die USA erläutern, wie die Nato auf die neue Lage reagiert. Intensiv wurde an einer gemeinsamen Erklärung gefeilt. Sie dürfte jene Argumente enthalten, die Stoltenberg stets vortrug: Russland trage die alleinige Schuld am Scheitern des Abkommens und habe Washington keine Wahl gelassen, denn ein "Vertrag, den nur eine Seite einhalte", sei nichts wert.
Die Nato hat keine Pläne, bodengestützte Atomraketen in Europa zu stationieren
Seit 2013, also noch in der Amtszeit von Präsident Barack Obama, hatten die USA Russland Dutzende Male mit dem Vorwurf konfrontiert, die Regeln zu brechen - und nachdem Donald Trump im Oktober ankündigte, den INF-Vertrag zu verlassen, hatten sich alle 28 Nato-Partner dem Urteil angeschlossen. Ende Juni hatten die Verteidigungsminister ein "Bündel an Maßnahmen" beschlossen, um die eigene Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit zu stärken: Man werde mehr Geld für Geheimdienste und Militärübungen investieren, die Luft- und Raketenabwehr verbessern.
Dies halten die Nato-Staaten für dringend geboten, denn Russlands Marschflugkörper vom Typ 9M729 (in der Nato heißen sie SSC-8), von denen Moskau an mindestens vier Orten je 16 Stück installiert hat, sind "mobil, schwer zu entdecken" und können bis auf Lissabon alle europäischen Hauptstädte erreichen - und dies "innerhalb von Minuten", wie Stoltenberg betont.
Analysten wie Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sehen neben der militärischen Bedrohung auch politisches Erpressungspotenzial gegenüber Westeuropa: "In der Nato gibt es nun zwei Zonen von Sicherheit. Es besteht die Gefahr, dass die Sicherheit Europas von jener der USA abgekoppelt wird." Polen und Balten fordern eine noch stärkere Präsenz der Nato in ihrer Region - am besten mit US-Soldaten. Mölling erwartet, dass die Nato ihre Anstrengungen erhöhen wird, um Truppenverstärkungen nach Polen, Litauen, Lettland und Estland bringen zu können. "Deutschland und seine Seehäfen werden hierfür die Logistik-Drehscheibe sein, und da Versorgungseinheiten wichtige Angriffsziele sind, müssen sie mit Luftabwehr geschützt werden", sagt der DGAP-Experte.
Das Pentagon verfolgt Pläne, gleich drei neue Raketensysteme zu entwickeln, die nach dem INF verboten gewesen wären. Allerdings hat das von den Demokraten kontrollierte Repräsentantenhaus die für den Haushalt 2020 beantragten 100 Millionen Dollar komplett gestrichen. Technisch möglich wäre es jedoch, bereits in der Entwicklung befindliche oder bestehende Raketensysteme für größere Reichweiten zu modifizieren. Fraglich ist, ob diese jemals in Europa stationiert werden würden, was zu einer Neuauflage der Nachrüstungsdebatte der Siebzigerjahre führen könnte.
Russlands Vizeaußenminister Sergej Rjabkow warnte am Donnerstag, falls dies geschehe, könnte Moskau solche Waffen in der Nähe der USA stationieren, etwa auf Kuba oder in Venezuela. Offiziell bestreitet Moskau Vorwürfe der Nato, nicht mit dem INF konforme Flugkörper stationiert zu haben. Stoltenberg aber hat angekündigt, die Allianz wolle Moskaus Handeln nicht "spiegeln" und keine landgestützten Atomraketen stationieren. US-Strategen erwägen, stattdessen eine kleine Zahl Atomwaffen mit flexibler, eher geringer Sprengkraft auf Schiffen und U-Booten zu platzieren. Damit soll die mit dem Marschflugkörper 9M729 verbundene Fähigkeit Russlands durchkreuzt werden, in Europa einen begrenzten Nuklearkrieg zu führen und so die USA im Falle eines regionalen Konfliktes von einem Eingreifen abzuhalten.
Mitte Juli berieten die stellvertretenden Außenminister der USA und Russlands in Genf über "nukleare Stabilität", unter anderem ging es auch um eine mögliche Verlängerung des New-Start-Vertrags. Diese letzte noch in Kraft befindliche Vereinbarung zur Rüstungskontrolle begrenzt die strategischen Atomwaffen Russlands und der USA. Sollte er ebenfalls auslaufen, wären die Arsenale der beiden einstigen Supermächte das erste Mal seit 1972 ohne jegliche Begrenzungen.